»Der Mensch ist in seiner Zeit gefangen«
Nino Haratischwilis Roman »Das achte Leben (Für Brilka)« erzählt die Geschichte einer Familie in Georgien von Beginn des 20. Jahrhundert bis heute. Von Kritikern wird der Roman hoch gelobt, manche sprechen bereits von einem Jahrhundertwerk. Tatsächlich wird sich beim Lesen eine Art Sucht einstellen. Hat man sich einmal mit den Akteurinnen bekannt gemacht – es sind acht Generationen von Frauen –, breitet sich ein gewaltiges, fesselndes Tableau aus. Georgien, Heimat Stalins, war Schauplatz des »roten Jahrhunderts«. »Ich wollte die Geschichte der Familie Jaschi erzählen, die von eben dieser Historie geprägt ist«, verriet die Autorin im Gespräch mit der Mittelbadischen Presse.
Frau Haratischwili, Sie sind Theaterregisseurin, Dramatikerin und Romanautorin. Ihren dritten Roman »Das achte Leben (Für Brilka)« stellen Sie jetzt in Offenburg vor. Geht das alles nebeneinander?
Nino Haratischwili: Früher ging das ganz gut, ich konnte mir die Zwischenräume freischaufeln, konnte im Parallelmodus arbeiten und das Schreiben mit dem Inszenieren abwechseln beziehungsweise Stücke mit Prosa. Mit dem letzten Roman war das nicht mehr möglich.
Wie das?
Hartischwili: Für die Fertigstellung habe ich, nachdem ich bereits seit zwei Jahren am Schreiben war, die letzten zwei Jahre gänzlich frei genommen und mich ausschließlich aufs Schreiben und Recherchieren konzentriert. Sonst hätte das Buch noch viele Jahre in Anspruch genommen. Ich wollte es aber unbedingt fertigschreiben, zu Ende erzählen, das hatte für mich die absolute Priorität, und daher konnte ich auch ohne schweren Herzens die anderen Tätigkeiten auf Eis legen.
Haben Sie jetzt wieder etwas Ruhe?
Hartischwili: Auch momentan ist nicht viel an parallele Arbeit zu denken, da ich mich seit Monaten auf Lesereise befinde und zu gar nichts anderem komme als zum Reisen und zum Lesen. Aber danach, hoffe ich, wieder zu meinem alten Modus zurückkehren zu können.
Wenige sind hierzulande mit Georgien vertraut. In Ihrem Roman wird der Leser mit den geografischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten bekannt gemacht. Manchmal verschwimmen aber die Grenzen zwischen Fakt und schriftstellerischer Freiheit. Was hat Ihnen dieser Freiraum bedeutet?
Haratischwili: Es ist alles, so gesehen, schriftstellerischer Freiraum, denn es ist eine fiktive Geschichte, in die historische Ereignisse einfließen und die Handlung mitbestimmen. Ich wollte die Geschichte der Familie Jaschi erzählen, die von ebendieser Historie geprägt ist. Ich musste sie mir natürlich erst einmal vertraut machen, um zu wissen, was das für Ereignisse und Zusammenhänge waren und sind, um meine Geschichte, und zwar auf meine Art und Weise und in meiner Vorstellung, erzählen zu können. Daher waren für diese Arbeit die Recherche und das Kennen von Fakten sehr wichtig.
Können sich die Menschen in Ihrem Roman eigentlich dem Zeitgeschehen entziehen? Oder steht dieses Zeitgeschehen immer in ursächlichem Zusammenhang mit dem persönlichen Schicksal?
Haratischwili: Dem Buch geht ein georgisches Sprichwort voran: »Es sind die Zeiten, die herrschen und nicht die Könige«, und das glaube ich auch. Man ist als Mensch immer in seiner Zeit gefangen, egal wie selbstbestimmt man auch leben mag, und ganz besonders gilt das für totalitäre Systeme, wie die Sowjetunion eines war.
Warum lassen Sie Josef Stalin als »Generalissimus« oder den Geheimdienstchef Lawrenti Beria als »kleinen großen Mann« auftreten? War Ihnen die Nennung der tatsächlichen Namen zu gefährlich?
Haratischwili: Nein, gefährlich waren sie für mich nicht, aber das sind nun einmal die Männer, die den Verlauf des 20. Jahrhunderts für Millionen von Menschen aufs Grausamste geprägt und verformt haben und so auch die meisten Mitglieder der Familie Jaschi. Die Erzählerin Niza erzählt die ganze Geschichte ja ihrer zwölfjährigen Nichte Brilka in der Hoffnung, dass Brilka die Geschichte anders fortschreiben kann, nachdem sie den »Fluch« besiegt und die Geschichte durchdrungen und hinter sich gelassen hat. Und erst als sie selbst an diesem Punkt ist, nennt sie diese Männer beim Namen (kurz vor Ende des Buches). Erst da können sie durch einen Witz banalisiert werden und auf diese Art und Weise ihre Macht einbüßen.
Wunderbar ist die Geschichte mit der geheimnisvollen Schokolade. Die Frauen der Familie Jaschi erliegen ihrem Fluch, aber sie nutzen ihn auch zur Vernichtung ihrer männlichen Peiniger. Sahen Sie diese Schokoladengeschichte als ein Verbindungsmotiv entlang der Familiensaga?
Haratischwili: Ja, schon, es ist ein Element, das sie alle verbindet, das sich durch das ganze Buch als Motiv zieht. Allerdings ein Motiv, das je nach Figur und hoffentlich auch je nach Leser, anders interpretiert werden kann.
Nino Haratischwili
Nino Haratischwili
Nino Haratischwili, geboren 1983 in Tbilissi, ist eine Theaterautorin, -regisseurin und Schriftstellerin. Ihre Arbeiten werden regelmäßig ausgezeichnet (Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis oder Debütpreis des Buddenbrookhauses Lübeck 2011). Die Autorin lebt in Hamburg.
Der Roman
Das achte Leben (Für Brilka) erzählt von Frauen in acht Generationen in Georgien im 20. Jahrhundert. Der Roman erzählt von Liebe, Hass, Verrat, Treue und ein zauberhaftes Element. Denn die Frauen der Familie Jaschi sind im Besitz eines Rezeptes für die magische Schokolade. Frankfurter Verlagsanstalt, 2014, 34 Euro.
Lesung: Dienstag, 21. April, 20 Uhr, Stadtbibliothek Offenburg. Karten: Stadtbibliothek.