Die Weimarer Republik im Film
Im Rahmen der ARD-Woche Heimat bieten alle Volkshochschulen Veranstaltungen zum Thema an.
Die VHS Offenburg hat für Mittwoch den Filmkritiker Rüdiger Suchsland eingeladen mit seinem Film »Von Caligari zu Hitler«, der sich mit dem Film der Weimarer Zeit auseinandersetzt. Angeregt wurde er vom Buch Siegfried Kracauers »Von Caligari zu Hitler – eine psycholgische Geschichte des deutschen Films«.
Warum haben Sie sich dieses alten »Schinkens« Siegfried Kracauers von 1947 angenommen?
Rüdiger Suchsland: Danke für die Frage! Die Antwort ist im Prinzip einfach: Die Geschichte des Kinos der 20er-Jahre verdiente endlich, erzählt zu werden. Kracauers Buch ist ein zeitloser Klassiker – wie so manches alte Buch. Einsteins Relativitätstheorie, Freunds Traumdeutung. Oder Max Webers soziologische Standardwerke. Niemand würde sie deshalb für überholt halten, sondern sie sind ihrer jeweiligen Wissenschaft nach wie vor wichtige Bezugspunkte und Meilensteine, hinter die man nicht zurückkommt.
Und Kracauer?
Suchsland: Das Buch hat die Filmwissenschaft international überhaupt erst begründet. Natürlich ist manches nicht up to date und der manche Begriffen klingen etwas verstaubt. Aber der Kern ist davon unangetastet: Kracauer unternimmt weit mehr als pure Filmgeschichte. Er schreibt eine »psychologische Geschichte des deutschen Films« wie es im Untertitel heißt, also eine Mentalitätsgeschichte der Weimarer Republik.
Was zeigt er auf?
Suchsland: Er führt vor, was es heißen kann, Film auf den kulturellen, sozialen und politischen Zusammenhang zu beziehen. Gerade damit wurde das Werk in aller Welt zum Standardwerk – es ist noch heute an britischen, amerikanischen, französischen oder spanischen Film-Unis Pflichtlektüre. Dass das in Deutschland nicht so ist, hängt mit der traurigen Publikationsgeschichte des Buches und mit der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft zusammen, die sich mit antifaschistischen Emigranten bekanntlich schwer tat.
Und ihr Film?
Suchsland: Mein Film ist trotz allem keine Verfilmung des Buches, sondern ein eigenständiger Essay.
Wie ordnete Kracauer den deutschen Film ein?
Suchsland: Kracauer interessierte eine bestimmte prinzipielle Frage: Erzählt uns das Kino etwas über das sozialpsychologische Unbewusste einer Gesellschaft. Hierzu nahm er sich nicht »das deutsche Kino«, sondern das Kino einer bestimmten klar abgegrenzten Epoche vor: Der Weimarer Republik 1918-1933.
Was da besonders?
Suchsland: Er fragt danach, wie die kommende NS-Diktatur sich im Kino bereits vorher abzeichnet. Und da beschreibt er Auffälligkeiten: Diese Tyrannen, überstarken Väter, böse Zauberer, allmächtigen Verbrecher, oder einfach Monster, die Mabuses, Caligaris, Nosferatus und zugleich die willigen Vollstrecker wie der hypnotisierte Mörder Cesare oder die anderen Serienkiller in »M«, in »Büchse der Pandora« – sind die nur Zufall? Woher kommt ihre auffällige Häufung? Warum gibt es in anderen Ländern nichts Vergleichbares? Selbst wer Kracauers Antworten nicht teilt, wird dies erklären müssen.
Können Sie die Sicht bestätigen? Er war immerhin ganz anders betroffen als wir.
Suchsland: Ich teile Kracauers Sicht, nach der es – sehr schlicht zusammengefasst – eine Sehnsucht nach autoritären Führern, eine Furcht vor der Freiheit der Demokratie, ein Leiden unter Modernisierung und eine unterbewusste Gewaltbereitschaft im Deutschland jener Jahre gab. Das hat etwas mit der konkreten Nachkriegssituation nach 1918 zu tun, aber vielleicht auch mit tieferen Dispositionen, mit dem, was ich mal »deutsche Seele« nennen möchte. Die Historiker sprechen von »deutschem Sonderweg« im 19. und 20. Jahrhunderts. Dies teile ich, und Kracauer fügt sich da ein. Und hier sind wir ganz nahe beim Thema »Heimat«.
Die Weimarer Zeit als historisches Phänomen führt weitgehend ein relatives Schattendasein im Bewusstsein der meisten Menschen. Welchen Bezug haben Sie selber, was fesselt Sie an dieser Epoche?
Suchsland: Ihre Modernität fesselt mich. Es war trotz aller Belastungen eine größtenteils sehr optimistische Zeit, eine Epoche des Aufbruchs und des Fortschritts auf breiter Ebene: Die erste Demokratie auf deutschem Boden! Eine Zeit großer gesellschaftlicher und kultureller Reformen.
Was passiert im Bereich der Kunst und Kultur?
Suchsland: Avantgarden wie Expressionismus, Dadaismus, Futurismus, Konstruktivismus, Surrealismus, Neue Sachlichkeit, das Bauhaus, um nur die wichtigsten zu nennen sind bis heute von enormem Einfluss nicht nur auf die Künste, sondern auf das Design des Alltagslebens. Für das deutsche Kino war es sowieso die beste Zeit. Diese Filmemacher erfanden alles: Diverse Techniken und viele Genres. Auch Alfred Hitchcock begann schließlich in den Filmstudios von München und Berlin.
Wie kam es, dass Deutschland im Bereich Film so eine starke Stellung hatte?
Suchsland: Oh, das hat viele Gründe. Ein ganz wichtiger: Durch die Inflation der ersten Jahre nach 1918 konnte man dort billig produzieren. Vielleicht hatte Deutschland als Land der Poesie und der Philosophie, der Dichter und Denker seinerzeit auch einen besonderen Bezug zum Kino, das immer vom Phantastischen durchzogen ist, das bis heute ja Traum-Fabrik ist. Vielleicht besitzt ein Land, das einen solchen Krieg wie den Ersten Weltkrieg verloren hat, auch mehr Offenheit für seine inneren Dämonen. Die wandern dann auf die Leinwand.
Was berührt Sie an den Filmen oder der Kunst der Zeit?
Suchsland: Tatsächlich die Aktualität in der Zeit, wie für heute. Und Experimentierlust. Die Filme der 20-Jahre waren viel mutiger und vielfältiger als unser heutiges vom Fernsehen vorformatiertes deutsches Kino. Das geht dann auch mit höherer Qualität einher.
Was drücken sie aus? Utopie, Erleichterung, Ablenkung, Hoffnung, Ausdruck von Sehnsucht…?
Suchsland: Alles das. Kino hat immer ein Doppelgesicht: Es ist Flucht vor der Wirklichkeit und Spiegel von Wirklichkeit. Aber auch in Fluchtphantasien lässt sich innere Wahrheit entdecken. Das war ja gerade Kracauers Gedanke.
Wenn auch Film ein Spiegel der Gesellschaft ist, was für eine Gesellschaft begegnet uns da?
Suchsland: Eine Gesellschaft, die die alten inneren Dämonen – Klassengesellschaft, Militarismus, Krieg, Weltmachtsträume und Minderwertigkeitskomplexe – nicht
los wird, die mit ihnen ringt, die nach vorn schauen will, und für die Zukunft Utopien durchdenkt und neue Mythologien, die zugleich ganz gegenwärtig sind und das Hier und Jetzt feiern; die auch mitunter die Schrecken der Zukunft ahnen, und deswegen um so heftiger in den künstlichen Paradiesen der Gegenwart tanzen, weil sie spüren, dass es ein Tanz auf dem Vulkan ist.
Können wir heute diese Spiegelbilder/Bilder überhaupt verstehen, interpretieren? Sehen wir sie nicht durch eine doppelte Brille?
Suchsland: Wir sehen sie durch eine doppelte Brille –aber natürlich können wir sie verstehen und deuten. Denn überraschend ist, wie nahe sie uns kommen. Es sind Menschen wie Du und ich, die sie da sehen. Sie sind uns nicht fremd – in diesem Zoomeffekt liegt ein Geheimnis der Kinowirkung. Zugleich funktioniert der Film – so hoffe ich jedenfalls – natürlich wie eine Reise in eine verlorene Zeit und in das Bewusstsein dieser Zeit, in Kopf und Herz der Epoche.
Was sind für Sie die hervorstechendsten Merkmale des Films der Weimarer Zeit?
Suchsland: Neugier. Freigeistigkeit. Offenheit. Kunst und Unterhaltung waren für die damaligen Filmemacher kein Widerspruch. Man wollte Anspruch, man wollte auch Publikum, aber nicht um jeden Preis.
Da Ihr Film im Rahmen der ARD-Woche Heimat an der VHS Offenburg gezeigt wird – wo ist für Sie die Verbindung zu dem Thema?
Suchsland: Mein Film ist ein Heimatfilm. Er ist voller Sehnsucht und Nostalgie gegenüber etwas Vergangenem und Verlorenem. Und natürlich erzähle ich darin ganz viel von unserer Heimat Deutschland, und deren vielen Facetten – auch von etwas Verlorenem. Es gibt auch persönliche Bezüge.
Was verstehen Sie selbst nun unter dem Begriff »Heimat«?
Suchsland: Ein Gefühl wohl noch eher als ein Ort. Ein selbstverständliches Sich-Zuhausefühlen, eine Vertrautheit. Es ist etwas Persönliches und lässt sich nicht verordnen. Heimat ist zugleich etwas sehr Konkretes: Ein paar bestimmte Orte, auch, wie in Goethes »Wahlverwandtschaften« gewählte Orte, und etwas Imaginäres: Eine Fantasie, ein idealisierter Ort.
Rüdiger Suchsland
Rüdiger Suchsland, Jahrgang 1968, ist Filmkritiker und Journalist; er arbeitet beim Filmfestival Mannheim-Heidelberg sowie beim Festival des deutschen Films. Seit 2004 ist er Vorstandsmitglied beim Verband der deutschen Filmkritik.
»Von Caligari zu Hitler«, Rüdiger Suchsland, Mittwoch, 9. Oktober, 19 Uhr, VHS Offenburg.