»Ich wende mich an Leser von heute«
Der Literaturkritiker Denis Scheck ist dafür bekannt, dass er mit Herzenslust Neuerscheinungen kommentiert. Am 5. November tut er dies in der Stadtbibliothek Offenburg. Im Gespräch mit der Mittelbadischen Presse erklärt Scheck, was er unter »literarischer Zumutung« versteht.
Die Frankfurter Buchmesse ist vorüber, Sie stellen in Offenburg wieder Neuerscheinungen vor. Auf welche literarischen »Trends« muss sich der Leser gefasst machen?
Denis Scheck: »Trends in der Literatur« sind ja immer der etwas hilflose Versuch, diese unüberschaubare Menge von 90 000 Neuerscheinungen pro Jahr allein auf dem deutschen Buchmarkt durch ein paar Typologien in den Griff zu bekommen. Da wird dann, um nicht vor der schieren Zahl kapitulieren zu müssen, das »Fräuleinwunder« ausgerufen, die »Kurze-Hosen-Prosa« proklamiert oder der »Wenderoman« gesucht. Ich halte mich da lieber ans schöne Singuläre.
Mit »Kruso« hat ein DDR-Roman den Deutschen Buchpreis erhalten. Warum brauchen wir 25 Jahre nach der »Wiedervereinigung« noch einen DDR-Roman? Ober brauchen wir ihn gerade deswegen? Anscheinend wird ja noch nach dem großen »Wenderoman« gesucht.
Scheck: Literatur ist ein langsames Medium, ihre Reaktionszeit auf historische Zäsuren ist schildkrötenhaft im Vergleich zum Journalismus. Und sicher hat der als Marketinginstrument konzipierte Deutsche Buchpreis in den zehn Jahren seines Bestehens eine unübersehbare Vorliebe für didaktische Romane entwickelt, die ihren Lesern ein bisschen Nachhilfe in Zeitgeschichte erteilen. Aber das ist nur eine Lesart von Lutz Seilers »Kruso«, der ja auch als Roman einer Männerfreundschaft und als Künstlerroman gelesen werden kann.
Ihre Buch-Vorstellung heißt »Vom Guten, Schönen, Wahren – über druckfrische Neuerscheinungen und Zumutungen des Buchmarkts«. Was ist für Sie eine literarische Zumutung?
Scheck: »Endgame«, der üble Schundroman von James Frey, der gerade mit Macht in den Markt gedrückt wird. Der neue Roman von Bernhard Schlink, den ich von der Konstruktion her und sprachlich für ein ziemliches Katastrophengebiet halte. Das Gesamtwerk von Paolo Coelho und Susanne Fröhlich. Generell kann man sagen, eigentlich das meiste, was auf der Bestsellerliste steht. Bücher von Autoren die so schreiben, wie Aldi-Metzger Quälfleisch-Wurst machen: ohne Empfinden für Schönheit, Sinnträchtigkeit und Konsequenzen ihres Tuns.
Ihre Anmerkungen sind oft bissig, böse und haben etwas Kategorisches. Stoßen Sie dabei nicht diejenigen vor den Kopf, denen eine dieser Zumutungen gefällt? Nicht jeder Leser kann literaturwissenschaftliche Kriterien anlegen.
Scheck: Böse? Bissig? Ich? Nicht dass ich wüsste. Im Vergleich zu dem, was ich lese, bin ich das reinste Sonnenscheinchen, ein unversieglicher Quell guter Laune. Wo ich geh und steh, pfeife ich meine muntere Tirilli-pom-Melodie vor mich hin und lobe das Bestehende. Man muss auch nicht unbedingt »literaturwissenschaftliche Kriterien« an Texte anlegen, um ihre Qualität zu beurteilen. Ob die Milch in Ihrem Kühlschrank sauer ist, merken Sie auch ohne Chemiestudium. Wenn jemand in zehn Jahren Arbeit den Kölner Dom aus Streichhölzchen nachbaut, wird ihm das auch nicht zwingend eine Einladung zur nächsten Dokumenta eintragen. Auch in Liebe empfangene Kinder sind mitunter hässlich. Neun von zehn Büchern, die auf meinem Schreibtisch landen, sind misslungen, teilweise ist da richtig übler Schrott dabei. Neun von zehn Literaturkritiken sind aber wohlwollend positiv. Wir brauchen mehr Mut zur Wahrheit.
Was muss ein literarisches Werk haben, damit es »gut« ist. Viele Werke werden zunächst bejubelt – und dann spricht recht schnell niemand mehr darüber.
Scheck: Jeder Text stellt die Kriterien, nach denen er bewertet werden möchte, selbst auf. Die sehen bei einem neuen Roman von Philip Roth natürlich anders aus als bei einem neuen Kochbuch von Jamie Oliver. Pauschal kann ich nur eins sagen: ein guter Text wendet meinen Blick mit sanften Ohrfeigen in eine Richtung, in die ich von allein nicht geschaut hätte. Das schafft zum Beispiel Kafka, Beckett, Arno Schmidt oder Sibylle Lewitscharoff. Was nun die Halbwertszeit von gehypten Texten angeht – das ist im Sport, in der Politik oder in Musik genauso und einfach ein Medieneffekt. Die Literaturgeschichte ist da ein ausgezeichnet funktionierender Reparaturbetrieb für die Pannen der Literaturkritik.
Haben Sie Bücher gefunden, die das Potenzial zum »Klassiker« haben? Oder gilt diese Kategorie heute nicht mehr?
Scheck: Ich wende mich an Leser von heute, nicht an ein Publikum in hundert Jahren. Wer ewige Werte wünscht, dem empfehle ich den Immobilienteil Ihrer Zeitung.
Es gibt Tausende von Neuerscheinungen, Sie stellen rund 50 vor – wie intensiv können Sie da ein Buch noch lesen – zumal man von Ihnen ja eine dezidierte Meinung erwartet. Macht das überhaupt noch Spaß?
Scheck: Machen Sie sich um meine Spaßbilanz mal keine Sorgen – ich habe den begründeten Verdacht, dass mir mein Beruf fast schon unanständig viel Freude bereitet. Ansonsten lese ich mit dem Bleistift in der Hand und schlage ein Buch, über das ich in der Öffentlichkeit spreche, bei der ersten Seite auf und klappe es nach der letzten zu.
Welche Meinung haben Sie zum E-Book im Vergleich zum gebundenen Buch? Geht es Ihnen vor allem um Inhalt/Plot/Stil oder spielt das Gesamtpaket eine Rolle?
Scheck: Einem Aphorismus von Arthur Schnitzler zufolge gibt es das, wovon am meisten die Rede ist, meistens gar nicht. Für mich als Literaturkritiker ist die mediale Form eines Textes eher sekundär – wobei ich wie jeder Mensch lieber schöne, also schön gemachte Bücher lese als hässliche. Ich interessiere mich nicht primär für totes Holz, sondern für Literatur, ob die nun als Heftchen, Taschenbuch, Hardcover oder E-Book erscheint. Allerdings ist das Buch in seiner uns vertrauten Form eine jahrtausendealte, bis ins feinste Detail ausevolutionierte Maschine, und dagegen nehmen sich die Gehversuche des E-Eooks noch ziemlich holperig aus. Mein Rat: warten wir einfach noch ein paar Jahrhunderte ab und sprechen dann drüber. Nur keine Hudelei.
Crowdfunding: Was geht einem Literaturkritiker dabei durch den Kopf?
Scheck: Davon habe ich zuerst bei der Leipziger Buchmesse gehört, das muss in den 1730er- oder 1740er-Jahren gewesen sein. Wir nannten das damals Subskription. Im Ernst: Das kann eine vernünftige Sache sein, anders als Filme mit ihren Millionenetats sind Bücher aber sehr viel günstiger in der Herstellung und bedürfen daher meiner Einschätzung nach nicht unbedingt solcher »neuer« Finanzierungswege.