Kolumne

Zum Tode von Ralph Giordano: »Immer weiter für das Humane kämpfen«

Jürgen Stark
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16. Dezember 2014

Jürgen Stark ©Iris Rothe

Jürgen Stark, Kolumnist der Mittelbadischen Presse, war ein enger Freund des kürzlich verstorbenen Schriftstellers Ralph Giordano. In seiner Kolumne lässt Stark diese Bekanntschaft und Giordanos Leben Revue passieren.

Vor vier Wochen das letzte Telefonat. Mit dem jüdischen Schriftsteller Ralph Giordano war ich seit den 1980er-Jahren im Dialog, führte zahlreiche Interviews mit ihm. Das klang nicht gut, das Telefonat von Offenburg nach Köln. Hundeelend fühle er sich. Schmerzen überall, klagte er, die Kräfte würden ihm geraubt. 23 Bücher habe er geschrieben, das sei nun genug, meinte er, dennoch sprachen wir über sein Vermächtnis.

Ich plante einen Interviewband, kommentierte Zitate aus der Zeit, seit wir uns kannten. Es sei doch wichtig, dieser politisch verworrenen Zeit seine Erkenntnisse geballt entgegenzustellen, beschwor ich ihn. Ich solle ihm etwas Zeit geben, er müsse sich erholen, sagte er mit selten trauriger Stimme. Das war’s dann. Sein Kämpferherz hörte kurz darauf auf zu schlagen.

Zum Grab begleitet ihn nun auch der graue Zeitgeist, der ihn zuletzt so betrübte. Dieser Mann hatte sein Leben dem Kampf gegen jeglichen Faschismus gewidmet, am Ende machte es ihn müde, dass viele in Deutschland den zentralen Inhalt seiner Botschaft offenbar immer noch nicht verstanden haben. Doch der Reihe nach.

Ich lernte Giordano in den 1980er-Jahren in Hamburg kennen. Sein Buch »Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein« löste überall im Land heftige Diskussionen über nicht verurteilte NS-Täter aus. Gemeinsam mit einer Fotografin standen wir am Grindel, dort, wo die Hansestadt im Krieg heftig ausgebombt worden war und es einen berühmten jüdischen Friedhof gab. Wir machten einen Spaziergang und Giordano zeigte, wo die Folterkeller der Gestapo waren, wo er sich mit seiner jüdischen Mutter vor den Schergen des Regimes in einem Kellerloch bis Kriegsende versteckt hielt.

Drei von vier NS-Folterknechten hatte er nach dem Krieg mit der Pistole aufgesucht. »Ich bin froh, dass ich nicht geschossen habe.« Ich erzählte seine Geschichte für ein Jugendmagazin – und hatte die erste Lektion erhalten. Faschismus sei nicht spezifisch politisch, Hitler wie Stalin seien Faschisten gewesen, es gäbe rote und braune Faschisten. Dennoch könne man die Holocaust-Singularität nicht mit der DDR gleichsetzen. Ich verinnerlichte das und schrieb.

Als der Artikel erschien, war Giordano begeistert. Ich erhielt einen Brief, darin beförderte er mich zu seinem »Bundesgenossen« und lud mich nach Köln ein. Der Einladung kam ich Anfang der 1990er-Jahre nach, interviewte ihn in seiner Wohnung im Hochhaus für mein Buch »Renaissance der Spießer«. Zu der Zeit wurde Giordano massiv von Neonazis bedroht. »Wir haben für dich die Gaskammern wieder in Betrieb genommen, du wirst deinen persönlichen Holocaust erleben«, las er vor.

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Giordano hatte NS-Faschismus und Folter überlebt, die Prediger des Hasses auch. Dennoch lernte ich einen versöhnlichen und lebensfrohen Menschen kennen. Immer wieder betonte er, dass er mir – als einem Sohn der Tätergeneration – keine Schuld einreden wolle.

Die Nachgeborenen sollten aber auf der Hut sein, denn es gäbe immer wieder neue Gefahren für unsere Demokratie: »Wenn es einem Gewaltregime gelingt, seine Macht zu etablieren, dann ist es zu spät! Dann werden sich die Menschen immer so verhalten, wie die Geschichte es uns lehrt. Sie werden Mitläufer, Überzeugungstäter in der indifferenten Masse.«

Seine Waffe war das Wort, mit hoher Trefferquote. Seit der Machtergreifung Khomeinis im Iran und erst recht nach 9/11 begann sich Giordano sorgenvoll dem weltweit expandierenden militanten Religionsfaschismus zu widmen. Er warnte vor schleichender Islamisierung und lebte dabei – hochaktuell – die einzig wahre Differenzierung vor. Vereinnahmungen durch ultrarechte Gruppierungen wie Pro NRW ließ er sogar juristisch verhindern.

Seine Kritik am Bau einer »überdimensionierten« Moschee in Köln und sein Hinweis, dass »der Islam den Beweis für eine Demokratiefähigkeit noch schuldig sei«, brachten ihm erneut Morddrohungen, die sich nicht von jenen der Neonazis unterschieden. Ich verfasste deshalb für das Kulturforum der Sozialdemokratie einen »Aufruf zur Solidarität mit Ralph Giordano« – was in Kreisen der SPD widersprüchliche Diskussionen über den Islam auslöste. Giordano wunderte das nicht, denn einseitige Wahrnehmung sei schon immer die größte Gefahr für die Demokratie gewesen.

Dieser unbequeme Mann, der auch schon mal den Israelis die Leviten las (»Israel, um Himmels Willen, Israel!«), um gleichzeitig seine Liebeserklärung für das ständig bedrohte Land abzugeben, der auf mich wie eine literarische Ergänzung zu John Lennon und seiner Friedenshymne »Imagine« wirkte, soll nun so einfach fort gegangen sein?! Ist er nicht. Denn wir müssen seinen Kampf gegen linke, rechte und islamistische Faschisten weiterführen.

Zwecks Navigation gab er uns dafür seine Sichtweise zur Metaphysik von Gut und Böse mit auf den Weg: »Das Böse hat es leicht. Es funktioniert nach dem Gesetz der Schwerkraft, es braucht sich nur fallen zu lassen, dann geschieht es. Das Gute dagegen muss sich aufrichten, gegen die Schwerkraft angehen, muss ungeheure Energien aufbringen, um überhaupt Erfolg zu haben. Man kann daraus keine andere Lehre ziehen, als dennoch immer weiter für das Humane zu kämpfen, auch wenn der Weg des geringsten Widerstandes in unserer Natur liegt.«

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