Literaturtage "Wortspiel"

Keine Sympathie für Unvollkommenes

Ursula Groß
Lesezeit 6 Minuten
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06. März 2015

Arno Geiger ©dpa

Im Rahmen der Offenburger Literaturtage »Wortspiel« stellen wir Autoren und ihre Werke vor. Arno Geiger widmet sich in seinem Roman »Selbstporträt mit Flusspferd« auf anstrengende, aber auch amüsante Weise dem Thema
»Erwachsenwerden«.

»Bonjour tristesse« – oder hat man das nicht alles schon gelesen? Dass das Erwachsenwerden Schmerzen bereitet, die erste Liebe sowieso, der Verlust dieser Liebe erst recht und dann die Angst vor der Zukunft? Der Titel »Selbstporträt mit Flusspferd« macht auf jeden Fall neugierig. Aber ach, wie langweilig tröpfeln die ersten Kapitel dahin.

Warum schickt denn ein Autor einen langweiligen 22-jährigen Studenten in dieses Abenteuer seines Lebens? Nun, sagt Arnold Geiger im Gespräch mit der Mittelbadischen Presse, »Wenn man sich für junge Menschen nicht interessiert und von oben herab auf ihre Lebenssituation blickt, mag man einen Charakter wie Julian möglicherweise als langweilig empfinden. Mir selbst kommt das völlig absurd vor.« Aber letztendlich sei das mit ein Grund gewesen, warum er dieses Buch geschrieben habe. Ihm sei nämlich aufgefallen, wie oft er in den Medien »Abfälliges über junge Menschen lese. Also die Frage, warum das Lebensalter, das in der Goethezeit als das einzig Spannende gegolten hat, heute so unter Druck geraten ist, ist für unsere Gesellschaft äußerst weitreichend«.
Das liege unter anderem daran, glaubt Geiger, »dass vielen Menschen das Unvollkommene zunehmend Angst« mache. Die jungen Erwachsenen »erinnern uns ganz speziell an die Unvollkommenheit in uns. In einer Alles-ist-möglich-nichts-ist-sicher-Gesellschaft weckt ein Lebensalter, das besonders  geprägt ist von Offenheit, Möglichkeiten, Unsicherheit und Scheitern offenbar mehr Ängste als Sympathien. Schade«. 

Ausgang offen
Für Geiger ist die Zeit des Erwachsenwerdens ein »Lebensalter eigenen Rechts«, und die Bedeutung eines Lebensalters bestehe ja nicht primär darin, dass es auf ein anderes Lebensalter hinführe, sondern grundsätzlich darin, dass es gelebt werde. »Es passieren Dinge von unglaublicher  Wichtigkeit, erstmals gänzlich eigenverantwortlich, gleichzeitig in einer Situation, in der sich Unerfahrenheit und Experimentierfreude mische.« Der Ausgang des Experiments Leben sei offen, alle Beziehungen seien offen, »alles ist im Fluss«.  Verbunden sei das letztendlich mit einem entsprechenden Risiko.  »Ich sag’s mal so, Selbstbehauptung kann sich nur in der Freiheit richtig realisieren.Aber sie kann in der Freiheit natürlich auch scheitern«.
Gut – und warum ein Flusspferd? »Julian war als Kind  dick und er hat Angst, dass das dicke Kind zurückkommt«, fasst Geiger zusammen. Daran erinnere auch das Zwergflusspferd. Gleichzeitig sei es ein Tier, das »im besten Sinne unbrauchbar« sei, »nach herkömmlichen Maßstäben nicht schön, ungeeignet zur Freundschaft mit Menschen – und dadurch ganz bei sich.« Für junge Menschen sei es ein großes Thema: »Was denken die anderen von mir? Was erwarten die anderen von mir? Was will die Gesellschaft von mir?« Das Zwergflusspferd sei von derlei unberührt, ganz bei sich und dadurch freier. Und davon fühle sich Julian angezogen, sagt Geiger.
Irgendwie scheint das Phlegma des Tieres dem Charakter des Julians, einem Wiener Studenten der Veterinärmedizin, ähnlich. Beide finden sich ab mit dem, was andere in ihr Leben bringen. Beim Flusspferd sind es Futter und ein paar Streicheleinheiten, bei Julian das Interesse  – oder Nichtinteresse – der Frauen.

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Schöne Sprache
Dann gibt es noch Judith, die sich von Julian getrennt hat, was ihm Angst macht und Liebeskummer, den todkranken Professor, in dessen Obhut das Flusspferd derzeit lebt, dessen Tochter Aiko, in die sich Julian prompt verliebt – und als Gegenstück zu Julian dessen Freund Tibor, der geradezu vor Leben sprüht.
Geiger gelingt es überzeugend, diesen langweiligen jungen Mann darzustellen – nur wird die Lektüre dadurch sehr anstrengend und dem Lesefluss nicht gerade hilfreich. Andererseits ist da die schöne Sprache. Man wird in ihr versinken, die sinnliche melancholische Atmosphäre der Stadt Wien genießen, auf Sätze treffen, von denen man gar nicht genug kriegen kann.
Über die Tragödien jener – 2004 – macht sich ein Julian zwar Gedanken, lassen ihn sich aber noch verlorener und ohnmächtiger fühlen. »All die Terroranschläge, ich fand sie schockierend und abstoßend. Die ständig um den Erdball flutenden Druckwellen fuhren  mir regelrecht ins Mark« – aber sonst kreist er um sich und seine Befindlichkeiten, bleibt vage. Auch sein Äußeres. Judith ist eine rosige, frische junge Frau, Aiko vermutet wegen ihrer dunklen Hautfarbe, »dass es in ihrer Familie algerisches Blut« gegeben hat, das Flusspferd schillert, »seine Haut ist blutfarbig, manchmal lackschwarz«, frisst, schläft oder wälzt sich ansonsten im Gehege von Professor Beham. Der hatte es aus dem Zirkus gerettet. Und bis zum Abtransport in den Zoo betreuten Studenten das monströse Tier.

Julian ist einer davon.
Einen Sommer lang hatte Julian gehofft, geahnt, dass »es eine Welt gibt, die vibriert von der Ungewissheit«. Aber er wird brav fertig studieren, es wartet wohl keine Welt der Wunder auf ihn.
Er scheint irgendwie ein Mitläufer. Doch das lässt Geiger nicht gelten. Julian renne ja »ganz speziell nirgends ›mit‹. So jemand ist im tieferen Sinn auch nie passiv«, meint der Autor. »Schauen Sie, was er in diesem kurzen Lebensabschnitt von drei Monten alles macht.«
Und wie er sich auf seine Art bewege. Zum Schluss breche er auf nach Paris. »Zitat: ›Vielleicht kam ich mit dem Schrecken davon, den das Leben für diejenigen bereithält, die etwas nicht unversucht gelassen haben. Denn das war es, was ich tun musste, das musste ich tun, das versteht wohl ein jeder und eine jede: es nicht unversucht lassen, wenn man weiß, etwas fehlt, etwas stimmt nicht.‹«

Zur Person: Arno Geiger, 1968 geboren, lebt in Wolfurt und Wien. Sein Werk erscheint bei Hanser, zuletzt »Alles über Sally« (2009) und »Der alte König in seinem Exil« (2011). Er erhielt unter anderem den Deutschen Buchpreis (2005), den Hebel-Preis (2008), den Hölderlin-Preis (2011) und den Literaturpreis der Adenauer-Stiftung (2011).

Info: Arno Geiger, Selbstporträt mit Flusspferd, Hanser Verlag 2015, 19,90 Euro.
Lesung: Dienstag, 17. März, 20 Uhr, Buchhandlung Roth, Hauptstraße Offenburg.
Karten: Stadtbibliothek Offenburg, Buchhandlung Roth.

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