Achern: Tilman Jens plädiert für neuen Umgang mit dem Tod
»Es gilt, eine neue, rücksichtsvolle Kultur des Umgangs mit dem Sterben zu entwickeln.« Das betonte Tilman Jens, Journalist, Buchautor und mit über 100 Dokumentationen im Bereich Kultur, Theologie und Wissenschaft für die ARD und Arte bekannt, am Dienstag im Acherner Bürgersaal.
Der Vortragsabend war eine Veranstaltung der Kulturreihe »gong« in Zusammenarbeit mit dem Pflegestützpunkt Achern-Renchtal und der Stadtbibliothek. Die Besucher schienen gezielt gekommen zu sein, um sich einem Thema zu widmen, das Tilman Jens sehr persönlich in die Öffentlichkeit trägt: das Leben seines Vaters im Zustand einer Mischform der Vaskulären und der Alzheimer Demenz, seine Leidensgeschichte und letztendlich dessen Sterben. Ein Prozess, den der Sohn dem Vater gerne früher ermöglicht hätte, vor allem, weil es der ausdrückliche, notariell beglaubigte Wunsch seines Vaters war, im Bedarfsfall »keine lebensverlängernden Kunstgriffe einzuleiten«.
Schonungslos offen
Tilman Jens greift diesen Wunsch auf. »Du sollst sterben dürfen«, heißt sein neues Buch, aus dem der 56-jährige, in Frankfurt am Main lebende Autor las. Ein sehr persönliches, schonungslos offenes Buch, das letztendlich die Frage diskutiert, warum es mit der Patientenverfügung alleine nicht getan ist. Langsam habe sich die Demenz in das Leben seines berühmten Vaters Walter Jens eingeschlichen. In das Leben des großen Rhetorikers, des Mannes des Wortes und der Schrift. Walter Jens, deutscher Altphilologe, Literaturhistoriker, Schriftsteller, Kritiker und Übersetzer – ihm gingen, zum Entsetzen seiner Familie, seiner Umwelt, die Worte aus.
»In seinem 83. Lebensjahr, einem Jahr, bevor seine kognitiven Fähigkeiten zu verlöschen begannen, hat er seine Patientenverfügung verfasst«, so der Sohn. »Notariell beglaubigt, mit Brief und Siegel. Letztendlich aber war sie zu vage verfasst, überladen mit Selbstverständlichkeiten, nicht präzise genug, weiß Tilman Jens heute. Gebannt hört man seinen Ausführungen zu. Seine Wortwahl ist fließend, präzise. Langsam habe er sich verabschiedet, der Vater, der sich plötzlich kulinarischen Genüssen hingab, der sich von seiner Pflegerin, einer bäuerlichen Hausfrau, auf den Hof mitnehmen lies und Freude an den Kaninchen hatte. Er, der hochgradige Asthmatiker, dem man aufgrund dessen ein kurzes Leben vorausgesagt habe, der den Söhnen nicht mal einen Hamster als Haustier zuließ. So gesehen hatte er unerkannte Freuden entdeckt, etwas, das die Pflegerin positiv verbuchte, die Familie eher erschreckte.
Schon hier begann das Publikum aufzuhorchen, das neben den interessierten Bürgern der Stadt Achern aus Ärzten, Intensiv- und anderen Pflegekräften sowie Palliativmitarbeitern bestand. Wo beginnt das Unterstützen eines Kranken, das Eingreifen mit Mitteln wie Antibiotika, was Walter Jens vier Lungenentzündungen überstehen ließ, und wo ist der Wille des Patienten, sterben zu dürfen, angezeigt?
Schatten, kaum Licht
Diesen Fragen geht Tilman Jens nach; er reflektiert, erinnert, an einen Sturz des Vaters, der ihn schneller ins Krankenhaus gebracht habe als Überlegungen andererseits gegriffen hätten. Er sieht seinen Vater, fixiert, weil er sich die Schläuche immer wieder weggerissen hat, nimmt ihn schließlich mit nach Haus. Sein Siechtum geht weiter. Die Familie kann nur zusehen. Inge, seine langjährige Ehefrau, sieht aber auch die lichten Momente, kleine Alltagsfreuden, spürbare Genüsse, hört Sätze wie »Nicht tot machen, bitte«. Tilman Jens macht betroffen. »Meine Mutter hätte es nie fertig gebracht, ihn loszulassen. Nicht nach solchen Aussagen. Und die Frage schwebt im Raum: Wieviel »Ich« ist noch vorhanden?
Wer sterben will, hat keine Lobby
Tilman Jens: »Wer sterben will, hat keine Lobby in diesem Land. Der ist Manövriermasse für Sachwalter der unterschiedlichsten Interessen. Die Lebensverlängerung hat Methode, einerlei, ob da nun ein eigentlich rechtsverbindliches Schriftstück in den Wind geschlagen wird oder dem ärztlich begleiteten Freitod der Garaus gemacht werden soll. Die Missachtung von Patientenverfügungen und die Kriminalisierung der Sterbehilfe sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.«
Thesen, die bestätigt werden von Gästen, die sich zu Wort melden, aufzeigen, wie es ihnen ergangen ist beim Verlust des Partners. Die Ärzte im Saal plädieren für Offenheit, die Pflegekräfte sehen sich in ihrer Position eher hilflos.
Tilman Jens plädiert, wenn eine Patientenverfügung gemacht wird, dann muss sie eindeutig sein, verfasst in Respekt und Demut dem Leben und dem Sterben gegenüber. »Klammert das Thema nicht aus. Was hilft, ist reden, reden, reden.« Rechtzeitig. Mit Freunden, den Kindern, Ärzten, Anwälten. rdr