»Man sieht die Fragezeichen in den Augen«
Von Gewalttaten im Namen Allahs distanziert sich der Türkische Verein Oberkirch klar. Extremisten und Kriegstreiber würden die Mitglieder der Oberkircher Gemeinde sofort anzeigen. Dialogbeauftragter Zülfikar Atlay glaubt nach den Pariser Anschlägen und den Demonstrationen von Pegida, dass Muslime unter Generalverdacht gestellt werden. Ein Interview über Terror und Toleranz.
Wie fühlen Sie sich als Muslime angesichts der Pegida-Demonstrationen gegen die angebliche Islamisierung des Abendlandes?
Atlay: Wir kriegen hier zum Glück nicht so viel davon mit, außer den Nachrichten vom Aufruhr. Schön ist es nicht, dass das Ganze so ausartet. Wir als Muslime denken schon, dass der Islam zu Deutschland gehört. Viele Türken leben schon seit 50 Jahren hier.
Und wie sehen Sie die Gewalttaten in Paris?
Atlay: Die heißen wir absolut nicht gut. Das sind Terroristen, die zu solchen Handlungen greifen. Fatal, dass man sie unter dem Stichwort Islam eingruppiert. In der Sure Mai’de, ayat 32, des Qur’an (Koran, d.Red.) heißt es: »Wer ein menschliches Wesen tötet, ohne dass es einen Mord begangen hat, so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte.« Keiner, der dem Islam angehört, würde die Terroristen als Muslime dulden. Egal ob die Attentäter Boko Haram oder Al-Kaida angehören – das können keine richtigen Muslime sein. In der deutschen Gesellschaft wird es leider oft so aufgefasst: »Terrorismus gleich Islam« und »Islam gleich Terrorismus«.
Missbrauchen Boko Haram, Al-Kaida und Co. den Islam für ihre politischen und wirtschaftlichen Ziele?
Atlay: Das ist nichts anderes als Machtgehabe. Die Führer dieser Gruppen sagen alle, sie handeln im Namen Allahs. Doch ihre Taten sind weder eine islamische Handlungsweise noch steht etwas in der Art im Koran.
Haben Sie das Gefühl, als Muslim unter Generalverdacht zu stehen?
Atlay: Ja. Man siehst das Fragezeichen in den Augen seiner Mitmenschen und wird schon mal auf die Geschehnisse in Paris angesprochen. Wenn man den Leuten aber erklärt, dass der Terror im Islam nicht willkommen ist, bemerkt man den Aha-Effekt. Vor Kurzem habe ich am Offenburger Bahnhof erlebt, wie ein Bartträger, der wahrscheinlich noch nicht einmal Muslim war, als Terrorist beschimpft worden ist. Das gibt mir schon zu denken.
Was macht Ihnen mehr Sorgen: die antiislamischen Diskussionen in Leipzig und Dresden oder die Angst, dass es auch in Deutschland Terroranschläge von radikalen Islamisten gibt?
Atlay: Angst vor Pegida haben wir nicht. Das wird in ein paar Wochen im Sand verlaufen. Was die Terroranschläge betrifft: Das kann in Deutschland auch passieren. Ich denke nicht, dass die deutsche Polizei alles perfekt unter Kontrolle hat.
Wie wichtig ist in dieser aufgeheizten Lage religiöse Toleranz?
Colak: Der Papst hat dazu aufgerufen, dass Christen und Muslime gemeinsam für Gerechtigkeit, Frieden, Respekt und die Würde und Rechte jedes Menschen eintreten sollen.
Sehen Sie das genau so?
Atlay: Jeder sollte mit Anstand mit seinen Mitmenschen umgehen, auch mit Angehörigen anderer Religionen. Letztlich sind wir alle vom Herrgott erschaffen, egal welcher Religion wir angehören.
Fühlen Sie diesen Respekt durch Mohammed-Karikaturen à la »Charlie Hebdo« verletzt?
Atlay: Es ist nicht schön, dass man Karikaturen über den Propheten veröffentlicht oder Medien damit Geld verdienen wollen, wenn man weiß, dass das Anhänger einer Religion reizen könnte. Bilder vom Propheten zu veröffentlichen, ist absolut tabu im Islam. Das ist der Punkt, den die meisten westlichen Länder nicht verstehen oder nicht verstehen wollen. Muhammad nicht zu malen, ist seit 1400 Jahren ein ungeschriebenes Gesetz – das gebietet der Anstand.
Rechtfertigen die Mohammed-Karikaturen die Terrorakte in Paris?
Atlay: Mit Sicherheit nicht.
Colak: Die Karikaturen sind nichts als eine Provokation, aber das rechtfertigt trotzdem nicht, mit der Waffe gegen sie vorzugehen. Man muss politische Lösungen finden. Alles andere führt zu Missverständnissen, Hass und Neid.
Warum gab es in Oberkirch anders als in anderen islamischen Gemeinden keine Mahnwachen für die Pariser Opfer bzw. für Presse- und Meinungsfreiheit?
Colak: Anders als die Gemeinde in Achern, die der DITIB (ein Dachverband türkisch-muslimischer Gemeinden in Deutschland) angehört, sind wir ein ungebundener Kulturverein. Wir sind nicht informiert worden.
Atlay: Es hat sich organisatorisch nicht ergeben. Wir hatten nicht beabsichtigt, keine Mahnwache abzuhalten. Wir wollen in absehbarer Zeit der DITIB beitreten. Wir müssen diverse Feinheiten absprechen, um der Organisation beizutreten. Einen eigenen Imam haben wir schon.
Was würden Sie tun, wenn ein Neuankömmling in der Moschee radikale Positionen vertritt und zur Gewalt im Namen Allahs aufruft?
Atlay: Dagegen würde sich die ganze Gemeinde mit Hand und Fuß wehren, aber nicht mit Gewalt: Wir würden die Polizei einschalten.
Und wie wollen Sie verhindern, dass jugendliche Gemeindemitglieder im Internet Hasspredigern auf den Leim gehen?
Atlay: Genau aus diesem Grund ist es wichtig, dass wir einen Imam haben, der fünfmal täglich die Gebete hält und auf die Jugendlichen einwirkt, bei Treffen und Besprechungen. Wir sind hier fremd: in der Türkei sind wir die Deutschen, in Deutschland die Türken. Damit unsere Kultur nicht im Sande verläuft, braucht es Erziehung. Der Imam übernimmt dabei den religiösen Part.
Sind schon Gemeindemitglieder im Internet angesprochen worden, ob sie für den Islamischen Staat in den Krieg ziehen wollen?
Atlay: Nein, zum Glück nicht. Das ist eher in den Ballungszentren ein Problem. Hier kennt jeder jeden. Die Betreffenden würden schnell auffliegen und der Polizei gemeldet werden.
Colak: Viele Asylsuchende, die vor dem Bürgerkrieg in Syrien und im Irak geflohen sind, sind in der Ortenau gestrandet. Auch ihnen öffnet der Türkische Verein die Tür, so dass sie nicht komplett alleingelassen sind.
Der Türkische Verein engagiert sich auch bei der Aktion »Oberkirch hilft«. Warum war niemand von Ihnen dabei, als eine Gruppe aus Oberkirch das Flüchtlingslager in Midyat besuchte?
Colak: Jeder muss seinem Tagesgeschäft nachgehen. Wir wurden nicht eingeladen von den Initiatoren.
Und wenn es eine Einladung gegeben hätte?
Colak: Dann wären wir mitgegangen. Aber es ist nicht getan mit einem Projekt für Midyat. Mein Heimatort liegt 30 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Im Urlaub sehe ich 24 Stunden am Tag, was dort abgeht. Die Flüchtlinge liegen dort auf der Straße. Ich sehe das Elend vor der Haustür. Der Bürgerkrieg in Syrien besteht seit vier Jahren. Warum sind die westlichen Hilfsorganisationen erst jetzt aufgewacht? Die Türkei hat über 1,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen und nimmt unabhängig von der Religionszugehörigkeit jeden auf, der humanitäre Hilfe benötigt.
Zurück nach Oberkirch: Die Bertelsmann-Stiftung hat jüngst rund 1000 Unternehmen befragt, ob sie Auszubildende mit Migrationshintergrund beschäftigen. Die Antwort war in vielen Fällen nein. Haben es türkischstämmige Jugendliche auch in der Ortenau schwerer, an Lehrstellen zu kommen, als ihre gleich qualifizierten deutschen Altersgenossen?
Atlay: Ja, ich habe die Erfahrung schon gemacht, dass Bewerber mit ausländischem Namen ausselektiert werden.
Wo?
Atlay: Das möchte ich nicht sagen. Aber man erlebt das im Alltag, und das ist menschlich gesehen nicht in Ordnung. Jedem steht das Recht zu, dass mit seiner Bewerbung genauso umgegangen wird wie wenn er einen deutschen Namen hätte. Es darf keine Selektion geben, man muss die Integration konkret umsetzen. Es gibt leider noch eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Auch das tut im Alltag weh.
Jugendliche, die keine Perspektive sehen und diskriminiert werden, sind sicher ein leichteres Opfer für Hassprediger und Extremisten ...
Atlay: Das ist die große Gefahr. Aber auch Diskriminierung ist keine Rechtfertigung, um zu Gewalt zu greifen. Der Islam ist eine Religion des Friedens und nicht der Auseinandersetzung. In der Sure Kafiron ayat 6 des Qur’an heißt es: »Euch Eure Religion und mir meine Religion.«