»Sozialstaat ist unsozial geworden«
Sechs Monate vor der Bundestagswahl schreiben Renchtäler Kommunalpolitiker ihre persönlichen Wünsche an die Abgeordneten auf. Bei Karlheinz Bayer aus Bad Peterstal-Griesbach (63), seit 2009 FDP-Kreisrat, stehen drei Entscheidungen auf dem Zettel, die der neue Bundestag korrigieren sollte.
Was wünschen Sie sich von der neuen Regierung?
Karlheinz Bayer: Innenpolitisch weniger panische Schnellschüsse, wenn es um den Terrorismus geht, dafür ein konsequenteres Vorgehen gegen den zunehmenden Rechtsruck und die Verrohung, die sich immer noch ungestraft und unverfolgt am rechten Rand abspielt. Außenpolitisch drei wachsame Augen gegenüber Russland, China und den USA; mehr Souveränität gegenüber der EU und der EZB; Abkehr von TTIP und CETA. Wirtschafts- und marktpolitisch eine Stärkung des Mittelstands, der Handwerker und der Freiberufler; Umsetzung der Energiewende zugunsten der Erneuerbaren Energien; gleicher Lohn für gleiche Arbeit, für Frauen und Männer. Sozialpolitisch vernünftige und belastbare Aussagen über die Zukunft der Rente; die Abschaffung der Hartz-Gesetze und Wiedereinführung des vorherigen Zustands; eine deutliche Anhebung des Mindestlohns; deutlichere Förderung von Familien mit Kindern zu Lasten von Unverheirateten und Paaren ohne Kinder. Gesundheitspolitisch Wiedereinführung gleicher Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile; Abschaffung der sozialabgabebefreiten Beschäftigungen; angemessene Finanzierung der Krankenhäuser ebenso wie der Praxen in benachteiligten Regionen.
Welches Thema sollte der neu gewählte Bundestag zuerst anpacken?
Bayer: Es ist untragbar, dass nach wie vor Tausende von Flüchtlingen ertrinken und vor unserer Haustür sterben müssen, nur weil der Bundestag dem christlichen Anspruch, den die meisten Abgeordneten vorgeben zu haben, nicht gerecht wird. Der Bundestag macht sich kollektiv schuldig. »Wir schaffen das« deswegen nicht, weil der Bundestag es nicht schaffen wollte. Das muss sich als erstes ändern.
Welche Entscheidung der vergangenen 15 Jahre sollten die Abgeordneten rückgängig machen?
Bayer: 1. Die Agenda 2010 hat nicht nur der SPD geschadet, sie hat vielmehr unseren Sozialstaat abgebaut und in weiten Teilen unsozial gemacht. 2. Die Vorratsdatenspeicherung und die Überwachungsmöglichkeiten, belasten und bedrohen nicht nur den Bereich der ärztlichen Schweigepflicht. 3. Grotesk falsch sind die Entscheidungen, Staaten als sichere Herkunftsländer zu bezeichnen, die gegen fundamentale Rechte verstoßen.
Arm gegen Reich, Alt gegen Jung: Was müssen die Politiker tun, damit die Schere nicht noch weiter auseinanderklafft?
Bayer: Die Politiker müssen zuerst dazu gebracht werden, sich unabhängig zu machen vom Einfluss der Banken und Börsen. Dotierte Nebentätigkeiten müssten im Rahmen von Befangenheitsregeln zum dauerhaften Ausschluß von Entscheidungen führen, die diese Nebentätigkeit berühren. Korruption müsste zu einer automatischen Aufhebung der Immunität führen. Ich bin überzeugt, schon damit wäre der größte Teil der sozialen Ungerechtigkeiten bald beseitigt.
Wo in Ihrer Gemeinde würden Sie sich noch mehr Unterstützung vom Bund wünschen?
Bayer: Es sind die Probleme des ländlichen Raums, die mehr Unterstützung brauchen: Zuschüsse für den ÖPNV, Ausbau des Schienenverkehrs, Sicherung der medizinischen Einrichtungen, insbesondere der kleinen Primärkrankenhäuser, mehr Lehrer, mehr Polizisten, mehr Sozialarbeiter. Da dies gegengerechnet werden muss, Verzicht auf Dinge wie den Ausbau der Datenautobahnen, die erkennbar nur Lobby-Interessen dienen.