Wenn der Weg das Ziel ist
700 Kilometer in sieben Wochen, und das zu Fuß: Dieser Herausforderung stellte sich die 63-jährige Ilse Ewert aus Linx, als sie sich am 8. Mai alleine auf den Jacobsweg von St. Jean Pied de Port in Frankreich nach Santiago de Compostela in Spanien machte. Den Pilgerweg meisterte sie mit Gebeten und Gottvertrauen im Gepäck.
»Die letzten fünf Kilometer vom Monte de Gozo bis zur Kathedrale in Santiago schaffte ich humpelnd, aber in dem Hochgefühl von Vorfreude und der Gewissheit, es gleich geschafft zu haben«, erinnerte sich Ilse Ewert an die letzten Stunden ihrer langen und manchmal sehr beschwerlichen Wanderung. Aber am Grab des Apostels Jakobus und in der anschließenden Pilgermesse am 24. Juni in der brechend vollen Kathedrale von Santiago waren alle Schmerzen vergessen und ein tiefes Glücksgefühl und eine Welle der Dankbarkeit überrollten sie. »Die Messe war wundervoll und wird mir unvergesslich im Gedächtnis haften bleiben«, ist sie überzeugt.
Idee reifte lange
Schon seit 1990 ließ sie die Idee, den Jakobsweg einmal zu gehen, nicht mehr los. Durch berufliche und häusliche Gegebenheiten musste sie allerdings bis zu diesem Frühsommer warten. Mit einem »halben Meter« gelesener Reiseliteratur anderer Pilger, einem gut überlegt gepackten Rucksack, der nicht über zehn Kilogramm wiegen durfte, und dreimal die Woche eine Stunde Walking sowie einem Testlauf mit Rucksack von Linx nach Rheinbischofsheim zur Kirche und wieder zurück als Vorbereitung startete sie am 8. Mai am Kehler Bahnhof. Im Pilgerbüro von St. Jean Pied de Port riet man ihr von der Überquerung der Pyrenäen ab und empfahl ihr die ersten 30 Kilometer zu fahren und erst ab Roncesvalles zu Fuß zu gehen. Diesen Rat nahm sie dankend an.
»Der ‘Camino’ selbst ist stellenweise wunderschön, er ist aber oft schwer und nicht ungefährlich«, erzählt Ilse Ewert. Der Blick sei meist nach unten gerichtet, bloß nicht stolpern, mit dem Fuß umknicken oder fallen, sonst sei alles ganz schnell vorbei, sagt sie. Wenn sie etwas anschauen wollte, blieb sie stehen. Verweilen können machte für sie den Zauber des Weges aus sowie die zahlreichen Begegnungen mit anderen Pilgern aus aller Herren Länder mit den unterschiedlichsten Geschichten und Beweggründen im Gepäck. Ein erfahrener älterer Pilger sagte zu ihr, jeder könne den Camino gehen, wenn er folgende Regeln beachte: langsam gehen, Pausen machen und wer nicht fit ist, solle die Strapazen der hohen Berge vermeiden.
Das Pilgerleben selbst sei reduziert auf die fundamentalen Dinge des Lebens, erzählte sie. Nach sechs bis acht Stunden auf dem Weg sei der Körper erschöpft und eine schöne heiße Dusche das Wunderbarste auf der Welt. Danach folgte das Wäschewaschen und das Highlight des Abends, das Pilgermenü. Gegen 20 bis 21 Uhr sei der Pilger im Bett, um morgens um 8 Uhr schon wieder auf dem Weg zu sein.
Viele unvergessliche schöne Momente erlebte sie auf ihrer langen Wanderung, aber auch den einen oder anderen Tiefpunkt, den jeder Pilger hat, musste sie überwinden. Man würde aber auch lernen, sich selbst und seine Kräfte besser einzuschätzen, erklärt Ilse Ewert. Für sie hätte das vor allem geheißen, kürzere Tagesstrecken zurückzulegen. Der Weg würde dem Körper viel abverlangen, aber er schenke der Seele und dem Geist eine wohltuende Ruhe, in der man sich von dem Müll, der tagtäglich über einem ausgeschüttet würde, erholen könne, sagt sie. »Ein Ruhen in sich selbst«, nennt die Linxer Gläubige das.
Ein Stempel fehlte noch
Gegen Abend an ihrem Ziel in Santiago ebbte der Rausch an Glücksgefühlen langsam wieder ab und sie überfiel eine bleierne Müdigkeit. Sie freute sich unbändig wieder auf zu Hause. Ihrer Überzeugung nach war ihre Reise auch nicht in Santiago zu Ende, sondern erst zu Hause. Der letzte Stempel in ihrer »Compostela«, die heute gerahmt über ihrem Bett hängt, sollte aus der heimischen Kirche sein. Dieser Wunsch wurde ihr von Gemeindereferent Roland Stark noch während des Patroziniumsfestes in Rheinbischofsheim erfüllt, nachdem sie, anstelle einer Predigt von Pfarrer Rüdiger Kopp, von den frischen Eindrücken ihrer langen Reise erzählen durfte.
Tiefe Zufriedenheit
»Was ist geblieben vom ‘Geist des Camino’? Ein neuer Mensch wird man nicht, wenn man pilgern war, aber ein etwas anderer«, lächelte Ilse Ewert. Sie selbst hadert seither nicht mehr mit ihrem Alter und hat ihr Leben entschleunigt, sagt sie. Sie könne jetzt die positiven Aspekte ihres neuen Lebensabschnittes, den Luxus, Zeit zu haben und frei darüber verfügen zu können, voll genießen und gelangte zu der Überzeugung: »Es ist mir noch nie besser gegangen als jetzt.«
Gottvertrauen, Dankbarkeit und Zufriedenheit hätten sie auf dem Camino begleitet, seien ihr nach Hause gefolgt und bei ihr geblieben. Die restlichen 100 Kilometer von Santiago zum Cap Finisterre möchte sie im nächsten oder übernächsten Jahr zu Ende führen, »das fehlt mir noch irgendwie« schmunzelt sie.