Der Häuserraub von Kehl
Heute vor 70 Jahren marschierten französische Truppen in Kehl ein. Die Besetzung erfolgte ohne Kampfhandlung. Die Bevölkerung hatte die Stadt bereits am 23. November 1944 verlassen müssen. Als sie zurückkehrte, waren viele Häuser zerstört oder verschwunden – beides ist passiert in der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945.
Am 15. April 1945 zog mittags die 9. Division der französischen Kolonialinfantrie von Eckartsweier kommend in Kehl ein. Sie konnte Kehl widerstandslos einnehmen. Die 30 noch in Sundheim verbliebenen Polizisten wurden zu Gefangenen erklärt. Das aus Linx kommende Régiment d’Infantrie Colonial du Maroc hatte schon am Vormittag ein Kommando in die Stadt geschickt, das auf dem Turm der Nepomuk-Kirche die Trikolore gehisst und die Glocken geläutet hat.
Als die Franzosen an jenem 15. April vor 70 Jahren Kehl besetzten, waren einem Bericht des Bundes-Wirtschaftsministers vom April 1955 zufolge in der Stadt einschließlich Hafen 48 Anwesen, darunter drei Industriebetriebe, teils leicht, teils schwer beschädigt. Demnach haben am 15. April 1945 die Franzosen 1692 Wohngebäude unbeschädigt übernommen. Bei der Freigabe von Kehl in der Zeit vom 9. September 1949 bis zum 8. April 1953 waren von diesen Wohngebäuden laut dem Bericht 926 unbeschädigt, 501 total zerstört, 80 schwer beschädigt und 185 leicht und schwer beschädigt.
Zu den total zerstörten Gebäuden zählt beispielsweise die Geschäftshausreihe in der Hauptstraße zwischen Rathaus und Friedenskirche auf der rechten Seite in Richtung Bahnhof. Sie wurde erst nach dem Kriegsende dem Erdboden gleichgemacht. Sie wurde ab 1953, als dieser Teil der Stadt freigegeben war, so wie sie sich heute präsentiert wieder aufgebaut. »Die Architekten Vater und Sohn Meier hatten schon vor der Freigabe des Abschnitts Vorarbeit leisten können«, erzählt der Kehler Geschäftsmann Alfred Wickers, »sodass die Geschäftshauszeile 1954 fertiggestellt werden konnte«.
Nicht wieder aufgebaut wurde der Friedrichsbau, ein ehemals stattliches Gebäude an der Ecke Großherzog-Friedrich-/Bierkellerstraße, am späteren Standort des Vermessungsamtes und jetziger Kripo-Unterkunft. Der Friedrichsbau beherbergte das Café Kunz. Aussagen, wonach dieses Gebäude im Krieg zerstört worden sei (Hornung-Buch »Kehl 1840–1940«), treffen nicht zu. Das dokumentiert der ehemalige Kehler Museumsleiter Hartmut Stüwe in der Veröffentlichung »Evakuierung, Besetzung, Freigabe – Kehler Stadtgeschichte 1944–1953« mit einem Foto der ECPAD France. Dieses zeigt deutsche Kriegsgefangene wie sie nach dem 15. April 1945 in der Großherzog-Friedrich-Straße vor dem Friedrichsbau vorbeigehen auf dem Weg zur Pontonbrücke über den Rhein in französische Kriegsgefangenschaft.
»Der Bau war durch Bomben und Granaten nur leicht beschädigt worden, die Schäden wären leicht zu beseitigen gewesen«, berichtet unser Leser Karl Theodor Bender. Doch bei der Freigabe Kehls am 8. April 1953 gab es den Friedrichsbau nicht mehr. Das Gebäude war in der Besatzungszeit abgetragen worden. Von der Besatzungsmacht wurde es in der Schadensgruppe »Kriegsschaden« aufgeführt. Frankreich war für Besatzungsschäden zuständig. Für die Witwe von Konditormeister Josef Kunz bedeutete das, dass sie keine Entschädigung erhielt für den Wiederaufbau des Cafés. Deutsche Zeugenaussagen ließ Frankreich nicht gelten. Beweisfotos, wie das erwähnte, wurden erst viele Jahre später freigegeben.
Unter der falschen Schadenserfassung der Franzosen hatten etliche Kehler Familien zu leiden. Darüber berichtet die Kehler Zeitung unter der Überschrift »Der Häuserraub von Kehl« in der Ausgabe vom 12. August 1952. Zum »Häuserraub« äußerte sich auch das Requisitionsamt Kehl am 26. August 1952: »Es trifft zu, dass die Besatzungsmacht oder private Beauftragte während der Requisitionszeit in Kehl etwa in 50 Fällen Häuser abgetragen haben, die teils unbeschädigt oder nur leicht beschädigt waren. Nach den Berichten von deutschen Kriegsgefangenen, die in Kehl untergebracht waren, wurden in zahlreichen Fällen Gebäude nur deswegen abgetragen, um Baumaterial zu gewinnen.« Im Bericht der Kehler Zeitung ist zu lesen, dass »Häuser abgebaut, verladen und über den Rhein geschafft« wurden.
In einer Denkschrift vom 6. März 1952 an den Bundeskanzler führt der Anwalt Dr. Liewer aus Bühl, der viele Kehler Besatzungsgeschädigte vertreten hat, das Beispiel eines Kehler Eisenbahnarbeiters an. Dieser hatte seine Tätigkeit beim Bahnhof Kehl im Herbst 1945 wieder aufgenommen. Mit einem Sonderausweis durfte er die besetzte Stadt betreten. Er hatte ein Eigenheim in einer Nebenstraße.
Obwohl ihm der Weg zu seinem Arbeitsplatz vorgeschrieben war, konnte der Eisenbahner doch feststellen, dass sein Haus Ende 1945 noch unbeschädigt war. »Im Frühjahr 1947 musste er feststellen«, schildert Liewer, »wie die Ziegel von seinem Haus abgedeckt und abtransportiert wurden.« Das Gleiche passierte nach und nach auch mit Fenstern, Läden und Türen, mit Mauern und Backsteinen, sodass laut der Denkschrift das Besitztum des Eisenbahners Ende 1947 bodeneben war.
Quellen: Kehler Zeitung / »Das besondere Schicksal der Stadt Kehl/ Hartmut Stüwe, »Evakuierung, Besetzung, Freigabe – Kehler Stadtgeschichte 1944–1953«
Schadensgruppe:
Die französische Ortskommandantur in Kehl hat im Laufe des Jahres 1945 eine Zählung und Begehung sämtlicher Kehler Grundstücke vorgenommen, um eine Wohnungskartei zu erstellen, in welcher der jeweilige Gebäudezustand vermerkt wurde.
Schadensgruppe A: Unbeschädigte, sofort beziehbare Gebäude (617)
Schadensgruppe B: Leicht beschädigte Gebäude, die ziemlich rasch wieder instandgesetzt werden konnten (156)
Schadensgruppe C: Stärker beschädigte Gebäude, zu deren Instandsetzung Handwerker verschiedener Berufe erforderlich waren, mit mehrtägigem Einsatz (79)
Schadensgruppe D: Fast gänzlich zerstörte Gebäude (Teilruninen).
In der Praxis hat sich ergeben, dass es weitere zwei Gruppen gibt, nämlich
Schadensgruppe E: Häuser (etwa 30), die zwar am Begehungstag 1945 noch standen (also unter A, B oder C eingestuft waren), aber dann alsbald abgebrannt oder abgetragen wurden.
Schadensgruppe X: Häuser, die am Begehungstag beschädigt, also in Gruppe B, C oder D eingestuft waren, aber während der Requisitionszeit mit deutschen Mitteln wieder instandgesetzt oder aufgebaut wurden.