Die 70er bis 90er: Weichenstellung fürs vereinte Europa
Vor 50 Jahren sprangen die Signale des heutigen Kehler Bahnhofs erstmals auf Grün. In unserer zehnteiligen Serie laden wir zur großen Reise in die Kehler Eisenbahngeschichte ein: von 1844, als der erste Dampfzug die Stadt erreichte, über die Zeit legendärer Fernzüge bis zur Gegenwart des Bahnhofs im vereinten Europa.
Wie elegante, geschmeidige Schlangen wirken die Schienenrenner ICE und TGV, die sich zu einer denkwürdigen Premiere in Kehl trafen.« Nicht nur die Kehler Zeitung zeigte sich überaus beeindruckt von dem, was sich am 3. Mai 1986 im und um den Bahnhof bot.
Deutsche Bundesbahn (DB) und französische SNCF feierten den 125. Geburtstag der Linie Kehl–Straßburg und sorgten für Szenen voller Symbolik: Der Train à Grande Vitesse und sein deutsches Pendant trafen sich zunächst auf der (einspurigen) Rheinbrücke und hielten danach Seit an Seit im Kehler Bahnhof, wo sie zu Fahrten nach Offenburg und Straßburg einluden.
»Intercity Experimental« hieß im damaligen Probelauf der deutsche Hochgeschwindigkeitszug, der erst 1991 als »Intercity Express« regulär auf die Schienen ging. Der Chef der Bahndirektion Karlsruhe, Heinz Bubel, favorisierte in seiner Festansprache indes einen anderen Namen: »Intercity Europa«.
Bis TGV und ICE am Rhein tatsächlich Europa verbanden, sollten freilich noch zwei Jahrzehnte vergehen. Dabei stand keineswegs immer fest, dass die beiden Flitzer auf der Route Paris–München überhaupt bei Kehl die Grenze überschreiten sollten: Die Strecke Metz–Saarbrücken war lange als Alternative im Gespräch, 1990 empfahl zudem eine französische Kommission, die Schnellzüge über eine neu zu bauende Querspange bei Lichtenau brausen zu lassen, um Zeit zu sparen. Erst im Juni 2007 hieß es Bahn frei für den ersten TGV gen München – über Kehl, allerdings hier ohne Halt.
Deutsch-französisches Konzept
Ein kleinerer Grenzverkehr, nämlich zwischen Offenburg und Straßburg, machte deutlich früher einen Schritt nach vorn: 1989 brachte das deutsch-französische Konzept »Métro-Rhin« Zugfahrten im Zweistundentakt zwischen Mittelbaden und dem Elsass.
Die Zufriedenheit währte jedoch nicht lange: Schon 1993 kürzte Frankreich die »Métro-Rhin«-Zuschüsse – nach dem Abzug des französischen Militärs lohnte sich die Taktdichte für die SNCF nicht mehr. Zwischen Kehl und Offenburg fuhr die DB daraufhin verstärkt auf alleinige Rechnung, den Anschluss von und nach Straßburg mussten teils die Fernzüge übernehmen. Deutliche Besserung gab’s erst wieder mit den durchgehenden Ortenau-S-Bahn-Fahrten ab 2003.
Auch Kork und Legelshurst kamen lange nicht wie gewünscht zum Zug. So hielten in Kork noch Anfang 1996 werktags nur 22 von 56 Regionalbahnen, die den Ort passierten – und sonntags in Richtung Kehl keine einzige. Im Sommer des Jahres dann der Quantensprung: Nun stoppten 70 Prozent dieser Züge in Kork und Legelshurst; heute rauscht kein einziger mehr vorbei.
Fußgängerfreundlicheres Gesicht
Kaum Neues brachte das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts fürs Gebäude des Kehler Personenbahnhofs, das 1966 neu entstanden war. Lediglich der Vorplatz bekam Ende der 70er-Jahre ein fußgängerfreundlicheres Gesicht: Die zuvor vierstreifige Bahnhofstraße wurde teilweise durch begrünte Gehflächen überbaut, nur noch einspurig konnten die Autos nun vor die Station fahren.
Gründlich nahm sich die DB in den 70ern den Güterbahnhof vor – der wie die Personenstation auch der deutsch-französischen Grenzabwicklung diente und zu den wichtigsten Umschlagplätzen für Obst und Gemüse aus Frankreich und Spanien zählte. Nachdem Zugbildungs-, Zoll- und Rangiergleise schon 1967 vom Hafen an die Hauptbahnlinie westlich der Graudenzer Straße verlegt worden waren, lösten nun in direkter Nähe eine neue Güterhalle (1974) und ein modernes Verwaltungsgebäude (1976) die hundert Jahre alten Vorgängerbauten beim Personenbahnhof ab. 2,6 Millionen Mark ließ sich die Bahn dies kosten.
Die großen politischen Weichenstellungen der 90er gingen weder am Personen- noch am Güterbahnhof spurlos vorbei. Schengen und der EU-Binnenmarkt brachten das Ende der Grenzstationen mit ihren Zollprüfungen und Lokwechseln, Passagierkontrollen fanden nur noch gelegentlich und im fahrenden Zug statt, die entsprechend langen Halte in Kehl entfielen.
1994 privatisierte sich zudem die Bundesbahn zur Deutschen Bahn AG. Im Rahmen von Umstrukturierung und Grenzöffnung zog sie viele Aufgaben von Kehl nach Offenburg und in der Gütersparte auch nach Mannheim ab. So arbeiten auf dem Gütersektor heute nur noch die lokale Wagendisposition und der Rangierbetrieb in Kehl; Lagerhalle und Verwaltungsbau gingen 1999 an die Spedition Panalpina über, heute befindet sich dort die Firma JCL.
Daten und Fakten
• Bis September 1980
bzw. Juni 1981 saßen in den Bahnhöfen Kork und Legelshurst Schrankenwärter und Ticketverkäufer, in Kork gab es zudem noch ein Stellwerk und die Expressgut-Annahme. Modernisierung und Sparmaßnahmen ließen beide Stationen zu unbesetzten »Haltepunkten« werden, die Schranken schlossen nun zugbedient.
• Im Oktober 1982
gingen die beiden ersten Fahrkartenautomaten des Bahnhofs Kehl in Betrieb – für Ziele in 60 Kilometern Umkreis. Für weitere Strecken musste während der Reise eine Anschlusskarte gekauft werden.
• Nachdem die Busse
und Züge im Raum Kehl ab Ende der 80er als Verkehrs- und Tarifgemeinschaft Kehl (VTK) eine Einheitsfahrkarte boten, erhielt 1991 der ganze Kreis einen Verkehrsverbund: Die Tarifgemeinschaft Ortenau (TGO) entstand. Als Meilenstein führte sie 1997 den Europass bis Straßburg ein.
• 1994 rief die Kehler Bahnhofsmission (nicht nur) für einsame Menschen und Obdachlose den »anderen Heiligabend« ins Leben. Fast zwei Jahrzehnte lang ließen viele Kehler gerne das Weihnachtsfest im Bahnhofsgebäude anklingen – mit einem Gottesdienst und Liedern bei Kerzenschein.
• 1998 testete der damals noch »Radio Ohr« genannte Offenburger Hörfunksender die Sauberkeit der Ortenauer Bahnhofstoiletten. Das Ergebnis fiel für Kehl wenig schmeichelhaft aus: »Schlicht der Abschuss«,
urteilten Volker Frank und Simone Huber – angesichts von Fäkaliengeruch, Einschusslöchern in den Klotüren und Graffitis an den Wänden.
Zeitsprünge
Wer heute in einen Kehler Fahrplan von 1979 schaut, könnte sich wundern: Abfahrt in Kehl zum Beispiel 11.03 Uhr, Ankunft in Straßburg 12.13 Uhr – brauchten die Züge für neun Kilometer wirklich über eine Stunde? Des Rätsels Lösung: In Frankreich galt damals die Sommerzeit, in Deutschland noch nicht. Und so schaffte es die Bahn, in Gegenrichtung manchen Geschwindigkeitsrekord zu brechen: Abfahrt in Straßburg 13.46 Uhr – Ankunft in Kehl jedoch schon 12.56 Uhr . . .