Marktplatz Nord: Das Aufregerthema in Kehl
Seit 25 Jahren gibt es das »Centrum am Markt« in Kehl. Das Geschäfts- und Wohnhaus mit Tiefgarage wurde am 7. Dezember 1991 eingeweiht. Allerdings war seit 1983 diskutiert worden, was auf dem Areal »Marktplatz Nord« mit dem alten Gymnasium passieren soll. In unserer Serie blicken wir auf die Ereignisse zurück. Heute: Der Streit um den Häuserabriss.
Die Geschichte ist gegründet! – Das teilt am 18. Juli 1986 der aus Kehl stammende Freiburger Rechtsanwalt Hans Dehmer mit. Er vertritt die »Interessengruppe Marktplatz-Nord«, zu der sich an diesem Tag nach fast vierjährigen Verhandlungen acht Kehler Einzelhändler, die Sparkasse Hanauerland sowie die Stuttgarter Firma C. Baresel AG als Generalübernehmer per Vertrag vor dem Notar offiziell zusammengeschlossen haben. Ihr Ziel: Das Quartier »Marktplatz Nord« zwischen Schul-, Markt-, Kinzig-, Blumenstraße zu kaufen und darauf ein Geschäfts- und Wohnhaus mit Tiefgarage zu verwirklichen. Ein solches Projekt sieht an diesem Standort bereits der Rahmenplan von Mitte der 1970er-Jahre für die zukünftige Entwicklung der Innenstadt vor. Bis zur entscheidenden Vereinbarung zum Baubeginn sollte erneut einige Zeit ins Land ziehen: Am 8. Februar 1989 endlich, dem Aschermittwoch, wurde dieser Vertrag vor dem Notar geschlossen.
Verzögerungen sind symptomatisch für das Projekt »Marktplatz Nord«, dem Aufregerthema der 1980er-Jahre in Kehl. Höhepunkt der Auseinandersetzung mit teils hitzigen und kontroversen Debatten in der Stadt ist das Gemeinderatswahljahr 1984, in dessen Mitte sich die »Arbeitsgruppe Marktplatz Nord« gründet, das Gegenstück zu der bereits zu dieser Zeit – noch ohne rechtliche Form – bestehenden »Interessengruppe«. Mitte Februar 1984 sprechen sich in einer Versammlung die Kehler Wirte für die Neugestaltung des Areals der alten Schulgebäude hinter der Friedenskirche aus. Die Pläne dafür werden einen Tag später von der Stadt in einer Bürgerversammlung zur Aufstellung des Bebauungsplans »Marktplatz Nord« vorgestellt und dort von der Mehrheit begrüßt. Man erhofft sich eine Signalwirkung für mehr Attraktivität der Kehler City. Den Tenor fasst der damalige Wirte-Vorsitzende Walter Probst so zusammen: »So wie ich das sehe, gibt es endlich mal ein Gesicht für die Stadt. Wenn nochmal acht Jahre geplant wird, gibt es nichts.«
Als Grund für die Neubauabsichten der Stadt führt an diesem Bürgerabend der damalige Oberbürgermeister Detlev Prößdorf die Aberkennung der Schule durch die Schulbehörde an. Das habe den Neubau für die Albert-Schweitzer-Schule im Niedereich erforderlich gemacht. Die Förderschule ist zuletzt in dem historischen Gebäude untergebracht, nachdem das Gymnasium 1970 sein neues Domizil an der Vogesenallee bezogen und den Namen Albert-Einstein-Gymnasium erhalten hat.
"Wir Einzelhändler wären schlecht beraten"
Bei jener Bürgerinfo meldet auch der Kehler Einzelhandel öffentlich sein Interesse an der Bebauung des alten Schulgeländes an. Vorsitzender Albert Nückles damals: »Wir Einzelhändler wären schlecht beraten, würden wir uns die gebotene Chance an der Nase durchgehen lassen.«
Dann kommt Mitte Mai 1984 die Auskunft des Landesdenkmalamtes auf Anfrage der Kehler Zeitung: vier Gebäude auf dem Areal seien Kulturdenkmale, das eigentliche Schulgebäude, die beiden Eckgebäude und das ehemalige katholische Pfarrhaus in der Blumenstraße. Die gesamte Anlage sei als Beispiel Weinbrenner’scher Stadtkonzeption schützens- und erhaltenswert, heißt es unter anderem in der Begründung. Dass es sich bei den beiden Eckgebäuden um Kulturdenkmale handle, sei bei allen Planungen und Verhandlungen berücksichtigt worden, betont der Oberbrügermeister in seiner Erwiderung in der folgenden Ratssitzung Ende Mai. Der OB stellt klar, dass der Stadt kein Schreiben des Denkmalamtes vorliege, wonach die vier Gebäude nicht abgebrochen werden dürften. Das Denkmalamt werde sein Einvernehmen unter anderem auch von der städtebaulichen und architektonischen Lösung abhängig machen. Bei der später realisierten Architektur des Neubaus sind denn auch die beiden Eckgebäude herausgearbeitet worden.
Bei seiner Jahreshauptversammlung Anfang Juli 1984 erhebt auch der Historische Verein Kehl-Hanauerland warnend seine Stimme: Schon zuviel historische Bausubstanz der Kernstadt sei durch Kriege wie durch Neubauten verloren gegangen. Das Wenige, was Kehl noch an historischer Substanz besitzt, müsse erhalten und gepflegt werden, bekräftigt dann auch die »Arbeitsgruppe Marktplatz Nord«, die Mitte Juli auf den Plan tritt um den Abbruch zu verhindern. Die Arbeitsgruppe verweist auf das Konzept einer Weinbrenner-Stadt, wirft der Stadt vor, sie habe die Gebäude bewusst vergammeln lassen und hebt das Finanzrisiko eines Neubaus hervor. Statt Einkaufszentrum wünscht die Arbeitsgruppe Erhaltung der bestehenden Bausubstanz und schlägt beispielsweise eine kulturelle Nutzung vor.
Dagegen sieht der Bund der Selbständigen (BdS) bei seiner Hauptversammlung in der Jahresmitte 1984 in dem beabsichtigten Neubauprojekt einen Schritt in die richtige Richtung, um Kehl mehr Attraktivität zu verleihen. Schließlich beschließt der Gemeinderat in seiner letzten Sitzung vor der Sommerpause 1984 mehrheitlich, das Schulgelände zu einem Betrag von 1,7 Millionen D-Mark an die »Interessengruppe Marktplatz Nord« zu verkaufen.
Ruhe kehrt indessen nicht ein in der Stadt. 200 Zuhörer – um ein Vielfaches mehr als erwartet – kommen in der zweiten Oktober-Woche 1984 zu einer Podiumsdiskussion der »Arbeitsgruppe Marktplastz Nord« in den Sitzungssaal der Stadthalle, bei der auch der elsässische Liedermacher Roger Siffer auftritt. Als einziger Stadtrat sitzt Hans-Jürgen Sperling (SPD) am Podium, obwohl sich die Ratsfraktionen geeinigt hatten, an der Veranstaltung nicht teilzunehmen, weil sie das Thema »Marktplatz Nord« aus dem Wahlkampf heraushalten wollten – was natürlich nicht gelungen ist. Zur Finanzierung ihrer Arbeit bietet die Arbeitsgruppe in der Vorweihnachtszeit ein Plakat eines Kehler Künstlers an, das mit der Aufschrift »Schdehn lohn!« die alten Schulgebäude zeigt.
»Vorsorglich und vorübergehend« werden in der ersten Dezember-Woche 1984 wegen der in einem bautechnischen Gutachten festgestellten Mängel die beiden Eckgebäude des Schulbaus geschlossen, in dem einen an der Blumenstraße hatten bis dahin der Fanfarenzug und der Twirling Tanzsportverein ihre Unterkunft, in dem anderen an der Marktstraße das Jugendzentrum. Beide Eckgebäude werden Anfang Mai 1985 abgerissen.
In einem Grundsatzbeschluss bekräftig im Juli 1986 der Gemeinderat das Planungsziel, dass anstelle des einstigen Gymnasiums ein Einzelhandelszentrum gebaut werden soll.
Auf der Grundlage des bereits zwei Jahre zuvor gefassten und nun im Sommer 1986 ergänzten Gemeinderatsbeschlusses kann jetzt die Interessengruppe der Kehler Kaufleute, die sich zwischenzeitlich mit dem Generalübernehmer Baresel verstärkt hatte, die Pläne für eine Genehmigung des Bauvorhabens ausarbeiten lassen und die weiteren Vertragsverhandlungen führen.