Aus Straßburger Perspektive: Zwischenzeit aus anderer Sicht
Die Zeit der Kehler Besetzung aus Straßburger Perspektive: Diesem Thema widmete sich ein Vortragsabend des Historischen Vereins.
Uli Hillenbrand, Karl Theodor Bender vom Historischen Verein und Jean-Marie Woehrling referierten in den Räumen des Straßburger Centre Culturel Alsacien (CCA) über die Zwischenzeit (1944 bis 1953) aus Straßburger Sicht.
Für Hillenbrand stand das Projekt »Kehl erinnert sich« im Mittelpunkt seines Referats. Hillenbrand hat mit Schülern das Einstein-Gymnasiums über 60 Zeitzeugen interviewt. Ihr Zeugnis ist als Audiodatei aufgezeichnet und zu einer Hörcollage verarbeitet worden. Zwei Hörproben mit Berichten über die Flucht und den vergeblichen Versuch einer Rückkehr nach Kehl vermittelten am Abend einen Eindruck vom Gelingen des Projekts. Die Hörcollage ist als Kassette mit drei CDs erschienen. Der Historische Verein will Ausschnitte durch Transkription in Schriftform bringen und damit auch für schriftliche Recherchen verfügbar machen.
Karl Theodor Bender, gebürtiger Kehler, Zeitzeuge der Kriegs- und Nachkriegsjahre, präsentierte Fotos aus dieser Zeit und erläuterte daran den Ablauf der dramatischen und tragischen Ereignisse in Kehl, teils aus eigenem Erleben. Seine Familie erlebte die Jahre nach der Flucht im November 1944 in Oppenau, darauf wartend, ob Kehl nach der Besetzung annektiert werden würde. Im Stadtgebiet wohnten 1949 bereits etwa 7000 französische Staatsangehörige.
Streitigkeiten belasteten Verhältnis
Im Washingtoner Abkommen vom 8. April 1949 wurde die Freigabe Kehls vereinbart. Sie erfolgte in 42 Schritten und war am 8. April 1953 abgeschlossen. Deutsche Grundstückseigentümer beanspruchten sodann von Frankreich Ersatz von Schäden, die während der Besatzungszeit im Stadtgebiet entstanden waren; Kriegsschäden wurden nicht ersetzt.
Der Nachweis, wann und wodurch die Schäden entstanden waren, fiel nicht leicht. Er beschäftigte das Amtsgericht Offenburg noch viele Jahre. Diese Streitigkeiten belasteten das Verhältnis der beiden Grenzstädte auch noch in der Zeit der beginnenden deutsch-französischen Aussöhnung.
Das bestätigte im dritten Referat des Abends Jean-Marie Woehrling, viele Jahre Verwaltungsrichter in Straßburg. Auf der Suche nach Material zum Thema habe er nicht viel gefunden. Das Kapitel »Kehls Zwischenzeit« werde selbst in der vierbändigen Geschichte der Stadt Straßburg nicht behandelt. Im Buch »L’après-guerre à Strasbourg« von Bernard Vogler werde allerdings ein wenig berichtet.
Die Entscheidung der westlichen Alliierten im Washingtoner Abkommen von 1949 zugunsten von Kehl habe ihren Grund in dem Bestreben gehabt, Deutschland an der 1949 gegründeten Nato zu beteiligen. Auf lokaler Ebene sei diese Entscheidung nicht begrüßt worden. Der Präfektur, der Militärverwaltung und der Finanzverwaltung hätte vielmehr daran gelegen, mit einer Annexion klare Verhältnisse und die Voraussetzungen für eine funktionierende Verwaltung zu schaffen. Kehl sei damals eine Steueroase und ein Schmugglerparadies gewesen.
Lokalpolitiker, die Medien, Händler und die Bevölkerung seien nach dem Erlebten verständlicherweise deutschfeindlich eingestellt gewesen; ihr Verständnis für die Situation der Kehler habe sich in Grenzen gehalten. Wer sich deutschfreundlich gezeigt habe, sei schnell als Nazi und Landesverräter verdächtigt worden. Zu Sportveranstaltungen habe man deutsche Vereine nicht eingeladen. Deutsche Komponisten seien bis Ende der 1940er-Jahre in Straßburger Konzertprogrammen nicht berücksichtigt worden. Bei der Gründung des Europarats 1949 habe man noch Vorbehalte gegen eine Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland gehabt.
Schwierige Situation
Für viele Elsässer mit deutschen Wurzeln oder Sympathien für die deutsche Kultur sei die Situation schwer zu ertragen gewesen. Sie hätten den Konflikt im Stillen mit sich ausmachen müssen. Deutschunterricht sei nicht erlaubt gewesen, aber 90 Prozent der Bevölkerung hätten Elsässerdeutsch gesprochen. Mundart und deutsche Hochsprache hätten trotz gleicher Wurzel als verschiedene Sprache gegolten. Ein Elsässer habe sich nicht frei zur eigenen Kultur bekennen können. Spuren dieser Zwangslage seien heute noch zu bemerken.
Ein objektiver Grund für eine friedliche Verständigung sei allerdings der Kehler Rheinhafen gewesen. Für ihn habe die Straßburger Hafenverwaltung in Verhandlungen mit dem Land Baden 1951 eine gemäßigte Lösung gefunden: Der Kehler Hafen werde seitdem deutsch-französisch verwaltet. Die Wohnungssituation in Straßburg habe eine verträgliche Lösung des Konflikts um das Kehler Stadtgebiet erforderlich gemacht. 20 Prozent der Wohnungen in Straßburg seien zerstört gewesen. Kehls Freigabe habe deshalb nur sukzessiv erfolgen können. So sei in Straßburg, auch mit Zuschüssen der französischen Zentralregierung, die Cité Rotterdam entstanden, die nach und nach die noch in Kehl Wohnenden aufgenommen habe.