»Auf erste Euphorie folgte der Schrecken«
Wie war die Kriegsbegeisterung im Kinzigtal und welche Lehren müssen wir aus dem Ersten Weltkrieg ziehen? Im OT-Interview betrachtet Wolfgang Gall (55), Leiter des Offenburger Museums und Archivs, die »Urkatastrophe« aus regionaler Sicht und sieht die schrecklichen Geschehnisse vor 100 Jahren gleichzeitig als Mahnung, den Wert des Friedens und der europäischen Einigung zu schätzen und nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Auch zur Schuldfrage äußert sich der Offenburger Historiker pointiert.
Herr Gall, wie sehen Sie die derzeit wieder neu diskutierte Schuldfrage?
Wolfgang Gall: Mit dem Bestseller »Die Schlafwandler« von Christopher Clark ist die Schuldfrage 2011 wieder aktuell geworden. Die sogenannten »Fischer-Kontroverse« um Fritz Fischers 1961 erschienenes Werk »Griff nach der Weltmacht« liegt lange zurück. Bei dem Historikerstreit ging es um Fischers These, dass Deutschland als Nachzügler der europäischen Kolonialmächte nach der »Weltmacht« greifen wollte. Clark, der sich nicht auf eine der Großmächte konzentriert, sondern alle wichtigen Entscheidungszentren in den Blick nahm, relativiert den deutschen Anteil und gibt eher Serbien die Schuld. Seiner Meinung nach verhielten sich die Staatslenker Europas wie »Schlafwandler« und trugen dazu bei, dass die Welt in den Krieg »hineingeschlittert« sei. Eine These, die für viel Aufregung gesorgt hat.
Wie werden Clarks Aussagen bewertet?
Gall: Namhafte Historiker wie Gerd Krumeich werfen Clark vor, dass sein Buch handwerkliche Fehler enthält, nicht auf dem aktuellen Stand der Quellenforschung und einseitig orientiert sei. Oder Jörg Leonhard, der mit seinem Buch »Die Büchse der Pandora« einen weiteren Bestseller nachgelegt hat: Für ihn sind die europäischen Politiker »hellwach« in die Katastrophe gegangen.
Und wer ist Ihrer Meinung nach Schuld am Ersten Weltkrieg?
Gall: Ich finde, dass diese Schulddiskussion heute nicht mehr als Hauptplattform für die Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg taugt. Bedeutend wichtiger ist es, eine europäische Erinnerungskultur anzustreben, als rückwärts zu schauen und zu fragen, wer jetzt mehr oder weniger Schuld hat. Ich sehe auch ein wenig die Gefahr, dass Clark in Deutschland offene Türen einrennt und offensichtlich auf ein allgemeines Bedürfnis stößt, eine historische Last loszuwerden: Wenn Deutschland schon am Ausbruch des Zweiten Weltkrieg schuld ist, dann wenigstens nicht am Ausbruch des Ersten Weltkriegs...
...man erhofft sich ein wenig Absolution...
Gall: Dabei hieß das Ziel, mit dem die deutschen Eliten in den Ersten Weltkrieg gezogen waren, Hegemonie in Europa und Aufstieg zur Weltmacht, wie dies der Historiker Heinrich August Winkler schreibt.
Zumal der Erste Weltkrieg von einer großen Kriegsbegeisterung geprägt war – auch im Kinzigtal?
Gall: In den Großstädten wie Berlin kam es zu spontanen Begeisterungsstürmen auf den Straßen. Innerhalb der Bevölkerung herrschten eher ambivalente Gefühle, auch in Offenburg. Die bürgerlich-nationalen Kräfte sehnten den Krieg regelrecht herbei – vor allem die Intelligenz und ein Großteil der bürgerlichen Eliten. Arbeiterinnen und Arbeiter und die landwirtschaftliche Bevölkerung waren eher skeptisch – da war nichts mit Begeisterung. Die Berichte über die Euphorie des sogenannten »Augusterlebnisses« müssen wir selbstverständlich auch unter dem Aspekt der Zensur und Kriegspropaganda betrachten. Es galt, die Bevölkerung auf den Krieg einzustimmen mit dem Ziel einer »Volksgemeinschaft«.
Und wie reagierte die Bevölkerung auf den Kriegsausbruch?
Gall: Wenn man in die Tageszeitung schaut, zum Beispiel ins Offenburger Tageblatt, stellt man fest, dass in den Wochen vor dem Kriegsausbruch die Zeitung noch versucht, die Gemüter zu besänftigen. Die Artikel verbreiten Besonnenheit, man war guten Mutes, dass die Staatsmänner die Krise regeln werden, die Serbienkrise werde maximal in einem lokalen Krieg enden. In den Wirtshäusern der Garnisonsstadt Offenburg stimmen da schon die Stammtische vaterländische Lieder an. Mit der Ausrufung des Kriegszustands setzte die Militärzensur ein, die Berichterstattung der Zeitung verändert sich um 180 Grad. Nun wird mit Volldampf mobilisiert: Vereine melden sich mit Geld- und Sachspenden, Fahrpläne für Militärzüge nehmen ganze Seiten ein. Und es geht auch schnell los mit Kriegsgedichten.
Und dann zogen alle voller Euphorie in den Krieg?
Gall: Am Anfang schon, bis man eine Vorstellung davon bekam, wie monströs dieser Krieg mit seinen neuen Waffen war. Gymnasiasten und junge Akademiker waren besonders begeistert. Das wissen wir aus Kriegstagebüchern. Sie wollen ihren Vätern beweisen, dass sie genauso wie diese 1871 Frankreich in einem Blitzkrieg besiegen können. Es gibt da auch das Beispiel des 14-jährigen Emil Huber, der sich als Freiwilliger gemeldet und sein Alter verschwiegen hat – heute würde man von Kindersoldat sprechen.
Aber dann haben auch die Kinzigtäler schnell die Schrecken des Kriegs kennengelernt...
Gall: Wer die Sterbebücher durchsieht, kann feststellen, dass bereits wenige Tage nach Kriegsausbruch die ersten Toten zu verzeichnen waren. Bis Dezember 1914 hatte man schon eine ganze Reihe von Kriegstoten zu beklagen.
Wo finden sich heute noch Spuren des Ersten Weltkriegs im Kinzigtal?
Gall: In jeder Stadt, in jedem Dorf steht ein Gefallenendenkmal, es gibt Ehrenfriedhöfe und Gedenktafeln. Interessante Erinnerungsstücke befinden sich heute noch in den Privathaushalten, wie wir jetzt gesehen haben nach unserem Aufruf begleitend zur Wanderausstellung »Menschen im Krieg« des Landesarchivs Baden-Württemberg, die wir ab 14. November in Offenburg zeigen werden.
Damals pubertär und halbstark ist Europa heute erwachsen und stabil: Sehen Sie das auch so?
Gall: Man sollte sich als Historiker nicht als Prophet hervortun und Vergleiche anstellen. Allerdings verstehe ich die Gleichzeitigkeit von 100. Gedenkjahr und Ukraine-Krise als Warnung. Es ist zu hoffen, dass die Politiker und ihre Krisenmechanismen erfolgreicher wirken als vor 100 Jahren. Überhaupt müssen wir uns heute des unschätzbaren Wertes des Friedens stärker bewusst werden, die europäische Einigung nach zwei schrecklichen Weltkriegen als ein besonderes Geschenk ehren, mit dem wir nicht leichtfertig umgehen dürfen, wie dies geschichtslose Populisten in der Gegenwart vermehrt tun. Das gilt für die Politiker in Brüssel und in den europäischen Staaten ebenso wie für uns selbst.