Demo von Russlanddeutschen in Lahr: »Klarer Wahlaufruf«
Auf dem Rathausplatz demonstrierten am 24. Januar 2016 etwa 300 Russlanddeutsche gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Mit OB Wolfgang G. Müller hat der Lahrer Anzeiger über die Demo und deren Auswirkungen gesprochen.
Etwa 300 Menschen, hauptsächlich Spätaussiedler aus Russland, demonstrierten heute vor einem Jahr auf dem Rathausplatz gegen die Flüchtlingspolitik. Auslöser war eine Whatsapp-Nachricht auf Russisch, in der über die angebliche Vergewaltigung einer 13-jährigen Russlanddeutschen durch Flüchtlinge in Berlin berichtet worden war – eine Falschmeldung. Der Polizei wurde unterstellt, die Tat zu vertuschen. Auf dem Platz versuchten OB Wolfgang G. Müller und Felix Neulinger, Leiter des Polizeireviers, eine sachliche Diskussion mit den Demonstranten zu führen – keine leichte Aufgabe angesichts der aufgebrachten Menge.
»Orchestrierte« Demo
Der Lahrer Anzeiger hat mit OB Müller über die Demo und ihre Auswirkungen gesprochen. Die Stimmung habe sich seither beruhigt, sagt er. Seiner Einschätzung nach kann es aber gerade im Vorfeld der Bundestagswahl im September wieder zu ähnlichen Situationen kommen.
Müller ist weiterhin überzeugt, dass es sich um eine »orchestrierte Veranstaltung« handelte. »Ich kann zwar nicht sagen, wer dahinter steckte«, sagt der OB. Hackerangriffe vor der US-Wahl etwa hätten aber gezeigt, dass das Ausland – möglicherweise Russland – politischen Einfluss in anderen Ländern nehmen möchte.
Auch in Deutschland, wo es ähnliche Demos in weiteren Städten gab, stand 2016 eine Reihe von Wahlen an. Weiteres Indiz für Müller: »Der Wortführer forderte die Leute auf, nicht für die etablierten Parteien zu stimmen. Das war ein klarer Wahlaufruf.«
Warum sich Spätaussiedler gegen die Flüchtlingspolitik stellten, kann sich Müller mit ökonomischen Gründen, also der Befürchtung, dass die Neuankömmlinge mehr bekommen könnten als die Spätaussiedler bei ihrer Ankunft, erklären. Der Sicherheitsaspekt – darum ging es bei der Demo augenscheinlich – werde »manchmal nachgeschoben«.
Ähnliche Befürchtungen habe es in den 90er-Jahren gegeben, als Tausende Spätaussiedler nach Lahr kamen. »Damals warfen einige Menschen der Stadt und dem Staat insgesamt vor, zu viel für Spätaussiedler zu tun.«
Politisch interessiert
Positiv aus Sicht Müllers: Die Demo und die Wahlbeteiligung bei der Landtagswahl hätten gezeigt, dass Spätaussiedler durchaus politisch interessiert seien. »Früher war ihre Wahlbeteiligung gering. Alle Parteien werden ihnen künftig mehr Aufmerksamkeit schenken.«
Der couragierte Auftritt Müllers hatte für Aufsehen gesorgt – es wurde überregional berichtet, die Handy-Videos auf Youtube tausendfach angeschaut. Würde er es noch mal so machen? »Wenn es eine solche Situation in der Stadt gibt, muss die Politik präsent sein. Das gilt besonders im Kommunalen.« Sollten Bürger Sorgen haben, etwa um die Sicherheit, stehe ihnen das Rathaus offen, ergänzt Müller.
Für die Integration habe die Stadt in den vergangenen Jahrzehnten »ein enges Netz geflochten mit Maßnahmen im sozialen, erzieherischen und kulturellen Bereich, die allen zugute kommen« – das gelte für Flüchtlinge und Spätaussiedler gleichermaßen. Lahr sei wohlhabend genug, um sich das zu leisten. Sollte sich die Wirtschaftslage aber verschlechtern, werde es schwieriger, solche Angebote vorzuhalten, gibt Müller zu bedenken. Deshalb müsse der Bund Städte und Gemeinden bereits jetzt stärker unterstützen, denn »Integration findet nicht im Bundeskanzleramt statt, sondern in den Kommunen«, betont der Rathauschef.
INFO: In den nächsten Wochen soll es ähnlich wie nach der Landtagswahl ein Bürgergespräch mit Spätaussiedlern geben. Dafür sollen gezielt jüngere Leute angesprochen werden, um ihre Meinung zum Thema zu hören.
Felix Neulinger: Demo war ein »Schlüsselereignis«
Die Befürchtung der Demonstranten, dass es wegen der Flüchtlinge mehr Straftaten in der Stadt geben könnte, habe sich nicht bewahrheitet, sagt der Leiter des Lahrer Polizeireviers Felix Neulinger (Foto). »Die Kriminalität in Lahr ist unverändert, es sind positive Tendenzen sichtbar«, sagt er. Die Zahlen werden im April veröffentlicht.
Von Flüchtlingen begangene Straftaten seien Schlägereien in den Unterkünften, Diebstähle und Drogendelikte. »Was es nicht gab, sind Straftaten zum Nachteil der Bevölkerung oder sexuelle Übergriffe«, betont der Beamte. Den Vorwurf, die Polizei würde auf Anweisung Straftaten von Flüchtlingen verheimlichen, weist Neulinger entschieden zurück. »Wenn es herausragende Straftaten sind, dann berichten wir auch darüber. Wir nennen aber nicht bei allen Standard-Delikten die Herkunft.«
Die Demo vor einem Jahr sei ein »Schlüsselereignis« gewesen und habe im Nachhinein das Vertrauen von Russlanddeutschen in die Polizei gestärkt. »Wir haben den Austausch verstärkt, bieten regelmäßig Führungen im Revier an und sprechen Spätaussiedler direkt an. Es hat mich sehr gefreut, dass so großes Interesse an der Polizeiarbeit besteht.«