Fürbitten in Gotteshäusern gewähren tiefe Einblicke
In drei katholischen Gotteshäusern Gengenbachs liegen Fürbitten- und Anliegenbücher aus. Erwachsene und Kinder können dort handschriftlich und anonym auf leeren Seiten ihre Sorgen und Dankbarkeiten ausbreiten. Zurück bleiben von großer Gefühlstiefe geprägte Lebensdokumente.
Es sind Tagesgäste, Erholungssuchende, Pilger, Flüchtlinge. Individualisten aus aller Herren Länder, Klinikpatienten und Einheimische schreiben sich in diesen Büchern etwas von der Seele. Entweder in der Stadtkirche, der Jakobus-Pilgerkapelle auf dem »Bergle« oder in der kleinen, weit abgelegenen Portiunkula-Kapelle. Es sind Dokumente der Weltlage und persönlicher Seelenbefindlichkeiten, aufgeschrieben von Christen und Andersgläubigen fremder Kulturen.
Sinnverwandt sind sich die Bitten um Weltfrieden, Gesundheit, Genesung, Linderung von Schmerzen, Familienzusammenführung, um Beistand für wichtige Entscheidungen. Hilferufe für Halt in auswegsloser Beziehungs-, Lebens-, Finanz- oder Berufsfrage. Oder die schlichte Bitte um Schutz auf dem Kinzigtäler Pilgerweg, einem Zweig des europaweiten Fernwanderwegs nach Santiago de Compostela. Danksagungen für alte und neue Liebe, für langes gemeinsames Leben, überstandene böse Krankheiten. Dank für gute Heimkehr nach einer Reise – vermutlich von Einheimischen verfasst. Bitten für ein gutes neues Jahr, Notruf für möglichst schnelle deutsche Staatsbürgerschaft, für Segen einer zurückgelassenen Familie in Syrien – oft formuliert in holprigem Deutsch. Anrührende Kindereinträge spiegeln Ängste wider vor Einbrechern, der Schule, dem Sterben des Großvaters, dem Verenden des geliebten Haus- oder Kuscheltieres. »Nimm mir meine Angst vor Achterbahnen und anderen schnellen Fahrgeräten. Vielen Dank!«, schreibt ein achtjähriges Kind im Glauben an die Wirksamkeit Gottes.
Alle werden angerufen: Gott, die Heiligen, Jesus und Maria, die Engel, selten Allah. Oft in vertrauter Briefform gesiezt, geduzt, bedankt, bezweifelt, bisweilen auch kumpelhaft angeredet: »Hi lieber Gott« und die Fußnote: »Wenn du sie siehst, bestell viele Grüße (an Verstorbene) und pass bitte auf.« Darunter Name und Datum. Gott und sein Team werden auf Augenhöhe heruntergeholt zu verlässlichen Ansprechpartnern. Menschen setzen voraus, dass die da oben alles verstehen, verzeihen, vor allem zuhören. So zimmern sich Kinder wie Erwachsene in gewisser Hilflosigkeit die Beziehung zu den himmlischen Wesen.
Es sind Hoffnungsschreiben von in kryptische Abgründe gerutschten Menschen, von Gläubigen mit hoher Gottesverehrung oder von jenen, die sich ihren kindlich naiven Glauben erhalten haben. Rucksacktouristen haben mehr Zeit. Sie hinterlassen lange Texte, über eine Buchseite hinausgehend. Mit Ausführlichkeiten, die sich wie eine erschütternde Lektüre lesen. Manchmal wird sogar auf zweifelhafte Aussagen (»Der christliche Glaube ist der größte Schwachsinn«) dialogähnlich geantwortet (»Werde mal alt, dann redest du anders«) und darunter noch ein weiser Kommentar: »Nein, der christliche Glaube ist die größte Hoffnung, die es gibt!« Trotz vieler inhaltlicher Gemeinsamkeiten wird bei genauerem Studium der Bücher doch eine gewisse Andersartigkeit klar.
Stadtkirche
Touristen aller Kontinente gehen ein und aus in Gengenbachs Stadtkirche. Eine flüchtige, mit schneller Schrift hingeworfene Bemerkung weist vielleicht hin auf einen Menschen, dessen Reisebus schon mit laufendem Motor wartet. Man findet Texte mit arabischen, asiatischen, kyrillischen Schriftzeichen. Sehr ordentlich, sehr fremd. Gerne würde man über den Inhalt etwas wissen. Allein schon die unglaubliche Formenvielfalt von Schriftcharakteren und deren unausgeprägt-krakelig bis flüssiger, manchmal künstlerischer Ausprägung wäre ein hochinteressantes Thema für Schriftexperten.
Vielfach gelobt wird die farblich wunderschön ausgestaltete Kirche Sankt Marien oder das zufällig gehörte Orgelspiel. Bezug wird zur weltlichen »Ladies Night« und zur Kräuterbüschelweihe an Maria Himmelfahrt genommen, zu allen christlichen Festen. Zum Jahreswechsel bunt, betriebsam, besinnlich.
Jakobus-Kapelle
In den Fürbittenbüchern der Jakobskapelle oben auf dem »Bergle« geht es schon ruhiger zu. Wer hier angekommen ist, der nimmt sich mehr Zeit als unten in der lauten Gegenwart. Hier leben die Buchseiten vielfach von Pilgereinträgen. »Auf dass es den Beiden neben mir weiterhin gut geht«, scheint der Herzenswunsch einer Pilgerin für ihre Mitwanderer zu sein. Erwähnung findet auch eine Frage an Gott: »Wo verbringst du deine Ewigkeit?«
Manchmal ist die Jakobsmuschel, das Wahrzeichen des Pilgerweges, zeichnerisch dargestellt. Oder ein malerisch festgehaltener Dank für die Schönheit der Natur und des wunderbaren Blicks auf die kleine Stadt im Tal.
Wanderfreunde gehen ein und aus, zünden eine Kerze für den heiligen Jakobus an. »Das Gefühl der Weite und des Weitsehens erfüllt mich in dieser Kapelle«, hält jemand im Rahmen eines Jahrgangstreffens fest.
Portiunkula
Seit vor über 20 Jahren die kleine Portiunkula-Kapelle erbaut wurde, ist sie als Ort der Ruhe ausgewiesen. Hier ist das bewusste Innehalten in den lückenlos im Haus La Verna auf dem Abtsberg archivierten Büchern zu spüren. Wer an diesem entlegenen Ort eine Rast einlegt, möchte in der Einsamkeit eins mit sich (und Gott) werden. Aus zahlreichen, oft umfangreichen Einträgen geht hervor, dass auch Klinikpatienten sich hier gerne schreibend niederlassen, »um ungestört über Probleme nachzudenken, das innere Durcheinander wieder zu entwirren.« Aber auch mal eine Liebesbezeugung »von einem, der Dich immer liebt, nicht nur als Kurschatten.« Unbekannte äußern: »Wir bitten, dass diese Kapelle nie geschändet wird.« Eine Pilgerin scheint müde und erschöpft mit einem schweren Thema von einer langen Pilgerschaft nach Santiago de Compostela auf dem Rückweg nach Norddeutschland zu sein. Sie ist dankbar, diese kleine Kapelle gegen Abend zum Schutz und Gebet gefunden zu haben.
In den jahrealten Büchern entdeckt man zur Weihnachtszeit immer dasselbe vertraute Motiv. Den von Kinderhand klischeehaft dargestellten Stall von Bethlehem und die heilige Familie mit allen überlieferten Merkmalen. Aber mit einem deutlich erkennbaren, neuzeitlichen Symbol. Statt einer Stalllaterne verbreitet eine nackte Glühbirne strahlenden Schein. In welchem Licht auch immer: hier begann vor mehr als 2000 Jahren eines Menschen Lebensgeschichte, die unserer Kultur ihren Sinn gab. Und Jemand aus der Fremde vermerkt darunter: »An meiner Wimper hängt ein Stern, er ist so hell, ich kann nicht schlafen.«