Großen Ängsten folgt Hoffnung
Kriegsflüchtlingen, mehrheitlich aus dem mittleren Osten, nimmt sich der neu gegründete Gengenbacher Freundeskreis Asyl an. Traumatisiert kommen die Schutzsuchenden aus einer Welt, in der Hass, Massenmorde und Vertreibungen triumphieren. Hier begegnet man ihnen oft mit Vorurteilen und Ausgrenzung.
Vom Landratsamt Ortenaukreis zugeteilte Asylbewerber, aktuell Flüchtlinge aus Syrien, finden seit knapp zwei Jahren in Gengenbachs ehemaligem Studentenwohnheim eine vorübergehende Bleibe. Von diesen Kontingentflüchtlingen kommen die einen im Rahmen einer humanitären Hilfsaktion, die anderen bitten um Schutz vor politischer oder religiöser Verfolgung. Im Einwanderungsland Deutschland angekommen, müssen sie einen Kulturschock verkraften, werden mit deutschen Einwanderungsgesetzen und Standards konfrontiert.
Am Ende der Straße, wo man meint, die Bahnhofstraße führe nur noch ins Nichts der einstigen Möbelfabrik Hukla, ist man richtig. Um einen großen Wohnblock schallt fröhliches Kindertreiben. Die kleineren Kinder spielen im Schutz des umzäunten, hauseigenen Spielplatzes. Im Schatten schaut die verschleierte Fatima zu. Größere Kinder drehen auf Fahrrädern ihre Runden. Vor der Haustür wartet Mehmet, Fatimas zehnjähriger Sohn (beide Namen geändert).
Er führt uns an 27 Briefkästen und ebenso vielen Klingelknöpfen vorbei. Hier leben zurzeit über 100 Menschen aus elf Nationen in vorläufiger Sicherheit. Tür an Tür Familien aus Serbien und Pakistan, Afghanistan, Bosnien, Irak und Iran, Georgien, Sri Lanka, Nigeria, Kosovo und Syrien. Eine herausfordernde Zeit des Übergangs, Wartens und Willens, sich anzupassen an fremde Lebensgewohnheiten. Dazu trifft orientalische Mentalität auf deutsche Amtsmühlen.
Sozialpädagogin Petra Wieber ist neben den Asylheimen in Lahr und Offenburg auch für Gengenbach zuständig. Ehrenamtlich arbeitende Dolmetscher sind als Begleiter jederzeit bei Kontoeröffnungen, Arztbesuchen, Anträgen verschiedenster Art gefragt. Im Treppenhaus duftet es nach fremdländischer Küche. »Das ist Koriander, natürlich auch Knoblauch«, weiß Widad Wagener. Die geborene Syrierin lebt schon lange in Deutschland, gerade jetzt betroffen vom ungewissen Schicksal ihrer Familie, und möchte »wenigstens hier einen Beitrag leisten, wenn ich schon nicht meinen Verwandten in Syrien helfen kann.« Sie spricht Arabisch, Türkisch und Deutsch. Wertvoll für einen Besuch bei Fatima, der jungen Syrierin, die mit ihren vier Kindern hier seit ein paar Wochen wohnt. Mehmet macht vor einer der vielen Wohnungstüren Halt. Eine kleine, rundliche Frau im Türrahmen.
Dunkles Kopftuch. Hinter ihr Kinderaugen – pendelnd zwischen Neugier, Angst und dann Freude, denn Eva Gimmel, Initiatorin für Gengenbachs Freundeskreis Asyl, kennen sie schon. Sie ist die Frau, der sie ihr volles Vertrauen schenken können. Die pensionierte Lehrerin engagiert sich ehrenamtlich und mit Selbstverständlichkeit. Sie hört zu, tröstet, organisiert. Ihr zur Seite Menschen mit ähnlicher Motivation vom Freundeskreis.
Fatima ist seit Ende April in Gengenbach und »scheint allmählich anzukommen«, so Eva Gimmel. Das sei an der Art der Begrüßung, Herzlichkeit und Offenheit zu spüren. Die Zweizimmerwohnung ist mit dem Nötigsten ausgestattet, nach der Flucht ein Luxus: ein Dach über dem Kopf, Feldbetten, Heizung, immer warmes und kaltes Wasser, Duschbad, Küchenzeile, Herd, Kühlschrank, Kleiderschrank. »Hier ist alles so hell«, staunt Fatima. Mit leiser Stimme beginnt sie zu erzählen. Widad Wagener übersetzt feinfühlig das Hocharabisch. Fatima weiß nicht mehr genau, wie alt sie ist. Die Flucht begann vor zwei Jahren und löschte alle eigenen Belange nahezu aus.
Ein Abend in Homs, Hochburg der beginnenden Aufstände. Fatimas Mann ist noch zu Fuß unterwegs. Stunden später erfährt sie, er sei auf der Straße erschossen worden. Man habe ihn liegen gelassen, verblutend. Hochschwanger verliert Fatima ihr fünftes Kind. Sie sieht keine Möglichkeit für sich und die Kinder, die ihr alles bedeuten, ihnen hier die Zukunft zu sichern.
Schulen sind bombardiert, ihr Vater rät zur Flucht aus der gepanzerten Hölle. Heimlich schlägt er ein Loch in die Rückwand der Wohnung. Eines Nachts klettert sie mit den Kindern durch die Wandöffnung. Draußen ein Fluchtauto. »Bring meine Tochter nach Damaskus«, raunt der Vater dem Fahrer zu und gibt ihm Geld. Mit nur einer Wäschegarnitur zum Wechseln beginnt die Flucht. Irgendwann bringt ein anderes Fluchtauto sie endlich in den Libanon. In Damaskus ein Zimmer ohne Fenster, Arbeit als Putzfrau in einer Schule. Unerschütterlich im sunnitischen Glauben, meistert Fatima irgendwie das Leben – stets im Hinblick auf die Kinder, die sie nun als Alleinerziehende durchbringen muss.
Nach zwei Jahren füllt sie einen Ausreise- und Asylantrag aus. Eine Rückkehr nach Syrien ist illusorisch, der Krieg in ihrem Heimatland hält an. Sechs Wochen später sitzen sie im Flieger nach Deutschland. Als Kontingentflüchtlinge dürfen sie im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen einreisen – einwandern.
Fatima zuzuhören klingt in ihrer fremden Sprache, als erzähle sie ein schönes Märchen aus dem Orient, aus Tausend und einer Nacht – wenn nicht Widad Wagener den Inhalt übersetzen würde. Mehmet hat aufmerksam alles mitverfolgt, als nehme er schon eine wichtige Männerrolle ein. Er geht, wie alle anderen Asylbewerberkinder, in die hiesige Schule. Die kleineren Geschwister sind im Kindergarten und lernen schnell. Für erwachsene Neuankömmlinge besteht die Pflicht, an einem mehrmonatigen Deutsch-Integrationskurs teilzunehmen. Sprache ist als Schlüssel zur Zusammenführung zu verstehen.
Exemplarisch steht Fatimas Flucht für Millionen von Menschenschicksalen aus Kriegsgebieten. Bleiben sie im Sozialhilfe-Netz hängen oder sind sie willensstark genug, sich eine eigene gesicherte Zukunft hier aufzubauen? Bilden sie in absehbarer Zeit eine Parallelgesellschaft im Einwanderungsland? Werden sie – je Flüchtlingsstatus – nach gewisser Frist wieder ins Heimatland abgeschoben oder freiwillig zurückkehren, wenn Frieden eingekehrt ist?
Fatimas Mobiltelefon meldet sich mit orientalischer Melodie. Es ermöglicht die einzige Verbindung zu Eltern und Geschwistern. Sie lebt im Zwiespalt zwischen Heimweh und dem Willen, in Deutschland Fuß zu fassen. Möglichkeiten, die traumatischen Erinnerungen zur Ruhe kommen zu lassen, werden ihr und den Kindern angeboten. Sie will auch diese Hilfe annehmen.