»Viele waren froh, dass es vorbei war«
Heute vor genau 70 Jahren rückten Einheiten des 23. Französischen Kolonial-Infanterie-Regiments in Offenburg ein. Bereits am 15. April 1945, und damit mehr als drei Wochen vor der endgültigen Kapitulation Deutschlands, war es damit in Offenburg vorbei mit dem Zweiten Weltkrieg. Im Rahmen eines Gedenkabends heute, Mittwoch, um 19.30 Uhr im Ritterhausmuseum wird an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert. Im OT-Interview erläutert Museumsleiter Wolfgang Gall, wie die Menschen den Einmarsch der Franzosen erlebten, wie groß der Rückhalt des Nazi-Regimes in Offenburg war – und was zur weiteren Aufarbeitung noch nötig ist.
Herr Gall, was für eine Stadt fanden die französischen Soldaten vor, als sie am 15. April in Offenburg einmarschierten?
Wolfgang Gall: Es war eine Stadt, in der es rund um den Bahnhof und in einzelnen Straßen viel Zerstörung gab, eine Stadt, in der noch 12 000 Menschen lebten, über 3000 waren evakuiert. Hinzu kamen einige Tausend befreite osteuropäische Zwangsarbeiter, die jetzt umherirrten und nach Lebensmitteln suchten, außerdem versprengte SS und Wehrmachtssoldaten sowie Angehörige des Volkssturms – und viele Frauen, Kinder und alte Menschen. Die meisten Männer waren ja an der Front, tot oder in Kriegsgefangenschaft. Die Spitze der nationalsozialistischen Verwaltung hatte sich schon aus dem Staub gemacht, die Verwaltung funktionierte noch, so weit es ging.
Wie muss man sich das vorstellen?
Gall: Noch im März 1945 fanden Sitzungen der Amtsleiter statt, die sich mit Themen wie Kohlemangel und Luftschutz beschäftigten. Aber die Beamten hatten noch Zeit darüber zu diskutieren, wie viele Weinflaschen ein Mitarbeiter zum Dienstjubiläum bekommen sollte. Eine sehr deutsche Geschichte. Die Paragrafen mussten bis zum Schluss eingehalten werden, obwohl sich die Welt drumherum längst in Schutt und Asche befand und es nur noch eine Frage der Zeit war, bis die französischen Truppen Offenburg erreichten.
Wie haben die Offenburger den Einmarsch erlebt?
Gall: Natürlich überwog die Angst vor dem, was kommt. Die NS-Propaganda hatte bis zum Schluss die Bevölkerung zum Durchhalten aufgefordert und davor gewarnt, dass die Rache und Vergeltung der sogenannten Feindmächte schlimm werden würde.
Empfanden es die Menschen eher als Befreiung oder als Besatzung?
Gall: Die Menschen, die kritisch dem Regime gegenüber waren und verfolgt wurden, sahen das Ende als Befreiung an. Andere waren auch froh, dass der Krieg vorüber war. Andere hofften darauf, dass sich die verheerende Lage bessert. Das Gefühl der Befreiung war für die deutsche Gesellschaft ein Lernprozess, denn ohne die bedingungslose Kapitulation hätte es kein Ende des verbrecherischen NS-Systems gegeben.
Und es waren ja ausgerechnet die Franzosen, die jetzt in Offenburg den Krieg beendeten...
Gall: Allgemein hegten die Menschen die Hoffnung, dass eher die Amerikaner Offenburg besetzen. Sie hatten einen besseren Ruf. Bei den Franzosen erinnerten sich viele an die Erfahrung von 1923, als Offenburg unter einer strengen französischen Besatzung leiden musste. In der NS-Propaganda waren die Franzosen natürlich ohnehin der Erzfeind. Ich glaube nicht, dass man viel Gutes erhoffte.
Wie traten die Franzosen in Offenburg auf? Was unternahmen sie als erste Handlungen?
Gall: Oberbürgermeister Wolfram Rombach war zu diesem Zeitpunkt schon geflohen. Er hatte vorab für diesen Fall die Entscheidung getroffen, dass Ratsschreiber Hermann Isenmann an die Stadtspitze rücken sollte. Dieser blieb aber nur 26 Stunden im Amt. Er wurde, von den Franzosen sofort angeordnet, durch den Kaufmann Ludwig Heß ersetzt. Der musste nun die Befehle des französischen Militärs umsetzen. Sie müssen sich vorstellen: Es gab keine Zeitung, kein Radio, kein Telefon. Es gab Stromsperren und nicht genug Heizmaterial. Viele Wohnungen wurden sofort beschlagnahmt für die französische Besatzung. Jede Anordnung wurde auf großen Plakaten an den Hauswänden festgehalten. Bei Nichteinhaltung galten drakonische Strafen.
Wie ist es den Offenburger Frauen ergangen?
Gall: Die Frauen hatten eine berechtigte Angst vor Vergewaltigungen. Auch in Offenburg sind Fälle bekannt. Allerdings waren die Übergriffe im Kinzigtal oder im Renchtal noch dramatischer. Der Grund war vermutlich, dass die Nationalsozialisten dort auch noch erbittert militärischen Widerstand leisteten, als die Truppen der Alliierten schon vor der Ortschaft standen.
Gab es in Offenburg noch Widerstand?
Gall: Es gab partielle Aktionen im Untergrund, von sozialdemokratischer, kommunistischer und katholischer Seite. In den Stunden vor dem Einmarsch versuchten mutige Männer, Panzersperren zu beseitigen oder die Sprengung der Brücken zu verhindern. Die Nationalsozialisten gingen rigoros gegen alle Bürger vor, die zum Beispiel weiße Fahnen aufgehängt hatten. Und es gab Standgerichte: Drei junge Soldaten wurden noch vor Kriegsende erschossen, weil sie als Deserteure angesehen waren.
Wie groß war denn nach Kriegsende das Leiden in der Bevölkerung?
Gall: Das Leiden war groß. Die Offenburger mussten schon durch die häufigen Bombardierungen einiges erleiden. Es gab immer weniger zu essen und vor allem fehlte im kalten Winter 1944/45 Material zum Heizen. Die befreiten Zwangsarbeiter hatten kein Dach über den Kopf, da ihr Lager zerstört war. Sie zogen durch die Stadt, um irgendwo die Nacht zu verbringen. Das schlimmste Los hatten die KZ-Häftlinge, es waren noch 700. Am 12. April 1945 standen die französischen Truppen schon bei Rastatt, als die SS 41 kranke Häftlinge in dem Außenlager des KZ Natzweiler in der Offenburger Artilleriekaserne brutal erschlug, dort, wo sich heute die Anne-Frank- und die Erich-Kästner-Realschule befinden – und das nur wenige Tage vor der Befreiung.
War Offenburg im Dritten Reich eigentliche eine Nazi-Hochburg?
Gall: Bei den demokratischen Wahlen erreichte die NSDAP nicht die Mehrheit. Als Offenburg 1936 wieder Garnisonsstadt wurde und das Elsass besetzt wurde, war die Zustimmung für die NSDAP in der Bevölkerung sehr hoch. Der Widerstand gegen die Deportationen und Verfolgungen war schwach. 1946 wurden immerhin zehn Prozent der wahlberechtigten Bürger das Wahlrecht aberkannt, weil sie im Zuge der Entnazifizierung als belastet galten.
Sie sprechen von 2000 KZ-Häftlingen und 2000 Fremdarbeitern in Offenburg während des Zweiten Weltkriegs. Wo mussten die schuften?
Gall: Zwangsarbeiter waren bei der Reichsbahn und in der lokalen Rüstungsindustrie eingesetzt und auch in Privathaushalten, vor allem in der Landwirtschaft rund um Offenburg. Die KZ-Häftlinge entschärften Blindgänger oder reparierten Zerstörungen an der Bahnanlage. Allein 1500 KZ-Häftlinge wurden zwischen November 1944 und Februar 1945 eingesetzt.
Oft heißt es: »Wir wussten ja von nichts...« Wie viel haben die Offenburger von dem Schicksal der Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge mitbekommen?
Gall: Das war sichtbar. Die Menschen befanden sich in der Nachbarschaft. Die KZ-Häftlinge sind schließlich auch in der Innenstadt zu Aufräumarbeiten eingesetzt worden. Einige Offenburger haben sich auch an den Oberbürgermeister gewandt. Sie protestierten allerdings nicht gegen die Art der Unterbringung der KZ-Häftlinge, die in Güterzügen im Bahngraben untergebracht waren – sie wollten, dass die Züge vor die Stadt gebracht werden, um weitere Bombardierungen zu vermeiden. Jeder dachte an sich und sein Überleben. Man war der Ansicht, es handelte sich um kriminelle Häftlinge, und es wird schon einen Grund haben, warum sie Gefangene sind.
Wie war die Situation der Zwangsarbeiter nach dem Einmarsch der Franzosen?
Gall: In der Ihlenfeld-Kaserne waren damals etwa 4000 befreite Zwangsarbeiter untergebracht. Am 4. Mai 1945 detonierte eine Zeitmine in der Kaserne, die von der Wehrmacht gezielt platziert wurde. Man ging davon aus, dass die Franzosen in die Kaserne einziehen würden. 114 befreite Zwangsarbeiter wurden dabei getötet, daraufhin kam es zu Ausschreitungen. Das war für die Anwohner ein ganz schreckliches Erlebnis, denn viele mussten aus ihren Wohnung fliehen. Auf der anderen Seite waren die befreiten KZ-Häftlinge, die Angst vor weiteren Anschlägen hatten. Das war der heikelste Moment, in dem die ganze Situation auf der Kippe stand. Die Franzosen wollten die verantwortlichen Nationalsozialisten erschießen. Dazu kam es aber nicht.
Wann hat denn in Offenburg die Aufarbeitung der Nazizeit und des Zweiten Weltkriegs mit all ihren Verbrechen begonnen?
Gall: Die Aufarbeitung der NS-Zeit begann in Offenburg in den 80er-Jahren und ist mittlerweile ein zentraler Punkt unserer historischen Arbeit.
Was braucht es denn noch zur weiteren Aufarbeitung? Viele hätten ja gern einmal den »Schlussstrich«...
Gall: Auch wenn heute viele einen »Schlussstrich« möchten, ist es wichtig, dass die Erinnerung an diese Zeit wachgehalten wird. Es gibt immer weniger Zeitzeugen, und das Wissen darum, dass in Deutschland so ein menschenverachtendes Regime die Welt in die Katastrophe geführt hat, darf nie vergessen werden. Die zivilisatorische Haut ist sehr dünn. Die NSU-Morde und die aktuellen Geschehnisse in einigen ostdeutschen Kommune, sind ein ernst zu nehmendes Zeichen, dem sich Politik und Gesellschaft stellen müssen.
Gibt es noch fehlende Mosaiksteinchen in der Aufarbeitung?
Gall: Ich habe mich in letzter Zeit in meinen Lehrveranstaltungen an der Universität mit meinen Studierenden hauptsächlich mit der Entnazifizierung beschäftigt und mit dem Umgang mit der NS-Zeit in den 50er-Jahren. Zentral bleibt die Frage, wie wir das Thema Jugendlichen zukünftig näherbringen – gerade, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt.
Und was ist mit dem jüdischen Leben in der Stadt: Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es ja eine lebendige jüdische Gemeinde. Fehlt sie heute in Offenburg?
Gall: Von den über 300 jüdischen Offenburgern waren 1945 nur noch drei in Offenburg wohnhaft. Offenburg hat ein Stück seiner Identität und Geschichte dadurch verloren, denn die jüdischen Bürger waren bis 1933 integrierter Teil des öffentlichen Lebens. Es gibt heute keine jüdische Offenburger Gemeinde, aber es leben wieder zahlreiche jüdische Bürger in Offenburg
Noch ein Satz zum heutigen Gedenkabend: Was sollen die Besucher mit nach Hause nehmen?
Gall: Dass wir heute den 15. April und 8. Mai 1945 rückblickend als Befreiung betrachten und angesichts des vielen Leids von damals den Wert eines friedlichen und gemeinsamen Europas schätzen.