Ortenau

Der Soundtrack ihres Lebens

Franziska Jäger
Lesezeit 6 Minuten
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31. Juli 2014
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 »Mit Gefühl, Frau Marz. Stellen Sie sich den schönsten Kuchen vor und seien Sie mit Leidenschaft dabei!« Die Kehlerin Mathilde Marz (89) und Peter Stöcklin vom Projekt »Musik macht Schule« singen das »Kuchenlied« in einem Tonstudio in Freiburg. Demenzkranke nehmen ihre eigenen Lieder auf CD auf. ©Stephan Hund

Wochenlang treffen sich Demenzkranke in der Kulturfabrik Goldscheuer. Sie wollen einfach Spaß haben und glücklich sein. Dann tritt Irina Lehnert in ihr Leben. Sie will mit ihnen Neues schaffen, der älteren Generation ein kulturelles Angebot bieten. Der Demenz zum Trotz – oder gerade deshalb.

Es herrscht große Aufregung im Bus. »Wir werden berühmt, wir wollen ins Fernsehen!« Wenig später stehen sie da, die Senioren aus der Kehler Umgebung, in einem Tonstudio in Freiburg. Die 89-jährige Mathilde Marz sitzt im Rollstuhl und bekommt Kopfhörer aufgesetzt. Musiker Peter Stöcklin deutet auf seinen Kopf: »Wir arbeiten mit einem Kopfhörer, da kommt die Musik raus, Frau Marz.« Er stellt noch das Mikrofon ein, dann zählt er ein. »1, 2, 3, 4 und ...«, dann gibt er das Zeichen. »Ihr wisst genau, was wir hier suchen. Wir sind verrückt nach Kaffee und Kuchen ...« Frau Marz singt gar nicht so schlecht für den Anfang, findet Peter.
Nacheinander werden die acht Senioren – sie sind zwischen 65 und 91 Jahre alt – aufgerufen. Bei den Proben in den vergangenen Wochen schunkelten sie noch, griffen dem Sitznachbarn lachend unter den Arm. »Wir werden Stars!«, hatten sie gejauchzt. Jetzt sind sie hoch konzentriert. Sie werden selbstkomponierte Lieder auf eine CD aufnehmen. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Denn die Senioren, die hier so inbrünstig singen, leiden unter Demenz – leichtes bis schweres Stadium.

Verantwortlich für diesen Singeinsatz ist Irina Lehnert. Die 35-Jährige absolviert eine berufsbegleitende Fortbildung zur Kulturgeragoin und bestreitet mit diesem Musikprojekt ihre Abschlussarbeit. Kulturgeragogik, das ist einfach gesagt die Kulturarbeit mit älteren Menschen.  »Der Gang auf das Dorffest oder in die Oper ist auf einmal nicht mehr so einfach möglich, erst recht, wenn Demenz mit im Spiel ist«, sagt Lehnert. Deshalb will Lehnert diese Menschen in einen schöpferischen Prozess einbeziehen. Die Fortbildung an der Fachhochschule Münster ist erst seit drei Jahren möglich, Kulturgeragogik ist also ein noch recht neues Feld. Kulturelle Projekte entwickeln für die wachsende Bevölkerung der Älteren, gesund und krank, lautet die Devise.
Im März traf Lehnert erstmals auf die Senioren der Demenzgruppe in der Goldscheuerer Kulturfabrik. Im Café »Vergiss-mein-nicht« des DRK verbringen sie einmal in der Woche Zeit unter Gleichgesinnten, entfliehen dem Alltag für ein paar Stunden bei Kaffee und Kuchen, bei Musik und Gesprächen. Die Leiterin der Gruppe, Lucia Clauss, macht zusammen mit ihren ehrenamtlichen Mitarbeitern immer wieder Gedächtnistraining mit den »Gästen«, wie sie die Demenzkranken nennt. Heraus kommt viel Biografiearbeit. Der Krieg und andere Ereignisse seien im Gedächtnis abgespeichert. »Über das Singen werden diese Erinnerungen aus der Reserve gelockt«, meint
Clauss. Überhaupt kommt Musik gut an bei den älteren Menschen. Sie verinnerlichen die immer wiederkehrenden Lieder, eine gewisse Routine stellt sich ein.
Irina Lehnert wollte damit vorübergehend brechen. Sie wollte zeigen, dass man auch mit demenzkranken Menschen Neues schaffen kann, und wollte bewusst vermeiden, dass alte Lieder gesungen werden, die die Menschen von früher kennen. »Demenzkranke Menschen können mehr als das«, betont Lehnert. »Es wird ihnen nur oftmals nicht mehr zugetraut.« Deshalb hatte Lehnert im Frühjahr Musiker aus Freiburg im Gepäck, um gemeinsam mit den Senioren eigene Texte zu finden, Reime zu verfassen und das Ganze in neue Lieder zu verwandeln. Lieder, die aus dem Leben der Demenzkranken erzählen.

Da ist zum Beispiel der charmante Herr, der erzählte, wie vielen schönen Frauen er in seinem Leben begegnet ist. Oder die Dame, die als junges Mädchen mit dem Fahrrad versehentlich auf der Autobahn fuhr und die Polizeiaktion sie am nächsten Tag in die Zeitung brachte. Die Menschen stehen mit ihren Lebensgeschichten im Mittelpunkt. So wie heute.
Inzwischen hat schon jeder der Teilnehmer mindestens ein Lied eingesungen. Diejenigen, die gerade Pause haben, sitzen um einen Tisch herum und stärken sich mit Kaffee und Gebäck.   Alle sind herausgeputzt. Die Frauen tragen Röcke, bunte Blusen, blumengesprenkelte Blazer, Ausgehschuhe aus Leder. Die Herren sind mit Hemd und Krawatte, gestreiftem Hemd oder gar Hut unterwegs.

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»Herr Roth, ich würde Sie gern zur Aufnahme bitten«, und Peter schaut den 78-Jährigen mit Hut an. Im Aufnahmeraum stehen Klavier, ein Schlagzeug, Gitarren säumen den Boden. Von der Decke hängt eine Diskokugel herunter. Fritz Roth soll zur Sicherheit noch ein paar Zeilen singen, bei denen sich andere Teilnehmer etwas schwer getan haben. Manche verschluckten einzelne Wörter, andere sangen etwas undeutlich, da klang »Apfel« dann wie »Abfall«. Roth hat zwar etwas Schwierigkeiten mit der Melodie, aber »so eine alte Stimme hat wahnsinnig viel Charakter, ein bisschen wie bei Johnny Cash«, ist Peter beeindruckt. Roth zieht auf einmal seine Mundharmonika aus der Hosentasche und fordert Peter zum Harp-Solo auf. Die Teilnehmer hören gespannt zu. Als das Duett vorbei ist, schauen sich die beiden an, schwingen ihre Fäuste aneinander. »Strike«. Das anfängliche Lampenfieber ist bei allen auf einmal wie weggeblasen.
Auch Mathilde Marz rockt in ihrem Rollstuhl, bewegt ihren Kopf im Rhythmus zur Musik. Peter spielt das fertige Lied vor. »Frau Marz, das sind Sie, ­hören Sie?« Dabei  lacht er sie liebevoll an.

Die Geschichten, die sich die Senioren aus ihren Erinnerungen zusammengebastelt haben, sie sind nur ein Bruchteil der Vergangenheit jedes Einzelnen, ist sich Irina Lehnert sicher. »Einige haben bestimmt viel Schlimmes erlebt«, fügt sie hinzu. »Aber mir ging es bei diesem Projekt darum, positive Themen zu wählen. Ich will und kann nicht kurieren, sondern möchte den Menschen fröhliche Stunden schenken. Sie sollen mal nicht an ihre Krankheit denken, sondern über ihre Kreativität staunen.«

Nach knapp vier Stunden Aufnahme im Tonstudio ist alles im Kasten. Der Stolz ist den Gästen trotz leichter Erschöpfung unschwer vom Gesicht abzulesen. Es sind ihre Geschichten, von denen sie heute gesungen haben. Das wird ihnen in diesem Moment sehr bewusst. Wenn die CD fertig ist, werden sie diese ihren Enkelkindern schenken. Zum Andenken. Ja, sie sind Stars. Für die Enkel ganz gewiss.
 

Hörbeispiele der CD »Freigold – Bilder von dir« gibt es bei »Musik macht Schule«.
 

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