Hochschule Offenburg bietet Studiengang Biomechanik an
Künstliche Kniegelenke oder neuartige Rollatoren - damit setzen sich Männer und Frauen auseinander, die an der Hochschule Offenburg das Fach Biomechanik studieren. Dabei spielt die Zusammenarbeit mit Firmen aus der Region eine große Rolle.
Herr Professor, wieso hat die Hochschule Offenburg den Studiengang Biomechanik eingeführt?« Einen Moment muss Professor Alfred Isele, Dekan an der Hochschule, in den Unterlagen suchen, die er zum Gespräch mit der Mittelbadischen Presse mitgebracht hat. Dann wird er fündig. »2016 haben in Deutschland 210 000 Menschen ein neues Hüftgelenk und 180 000 Menschen ein neues Kniegelenk erhalten«, liest er vor. Das sei ein Riesenmarkt, ist Isele überzeugt.
Soll heißen, in einer Gesellschaft die immer älter wird, gibt es für Menschen, die sich mit der Biomechanik, also der Schnittstelle von Biologie und Mechanik, auskennen, eine Vielzahl von beruflichen Möglichkeiten. Isele zählt gleich fünf Berufsfelder auf: Orthopädie, Unfallchirugie, Rehabilitation, Sport, Ergonomie.
Große Entwicklungsfortschritte hat der Markt für Implantate gemacht. Neben dem Einsatz von Hochleistungswerkstoffen wurden die Designs perfektioniert. Mittlerweile gibt es sogar für die Patienten individuell angepasste Implantate. Das geschehe durch einen Scan, sagt Iseles Kollege Steffen Wolf. Die Firmen fertigten dann mit einem 3D-Druckverfahren zum Beispiel eine individuelle Knieprothese an.
Bestimmte Implantate werden an den Knochen festgeschraubt. Sie nur mit dem richtigen Drehmoment anzuziehen, sei aber nicht genug, macht Isele deutlich. Momentan würden deshalb intelligente Schraubensysteme entwickelt, die etwa mittels Sensoren melden können, ob sie auch wirklich festsitzen.
Rollatoren mit Potenzial
Viel Verbesserungspotenzial sehen die Professoren auch bei den bei älteren Menschen immer beliebteren Rollatoren. Wenn jemand vergesse die Bremsen anzuziehen, könnten die Gehhilfen einfach wegrollen. Das sei gefährlich und könne zu Stürzen führen, so Isele. Er kann sich deshalb ein System vorstellen, bei dem die Bremsen immer angezogen sind und sich erst dann lösen, wenn ein Sensor registriert, dass das Gewicht nach vorne verlagert ist.
Einer der Gründe, den Studiengang in Offenburg zu etablieren, waren für die Hochschule auch die vielen Unternehmen aus der Region, die im Bereich der Biomechanik tätig sind. In Tuttlingen sitze der Medizintechnik-Hersteller Aseculap. In Freiburg unterhält der US-amerikanische Hersteller für chirurgische Implantate, Stryker, ein großes Werk.
Feder für Weitspringer
Der rechte Unterschenkel des Weitspringers Markus Rehm musste amputiert werden. Bei Wettkämpfen benutzt er eine Carbonfeder von Seifert und ist damit schon mehr als acht Meter weit gesprungen. Absolventen des Studiengangs lernten zum Beispiel wie die Feder beschaffen sein muss, so Wolf. Auf ähnliche Produkte im Bereich der technischen Orthopädie hat sich die Firma Seifert in Bad Krozingen spezialisiert.
Im Wintersemester 2015/16 hat die Hochschule erstmals die beiden Studiengänge Biomechanik und angewandte Biomechanik eingeführt. Für Isele und seinen Kollegen Wolf sind sie schon jetzt ein Erfolg. Bereits im ersten Semester habe die Hochschule alle Studienplätze vergeben können. Und auch zum Start des Wintersemesters 2016/17 gab es wieder mehr Bewerber als Studienplätze.
Bei Studentinnen beliebt
Bei Studentinnen ist der Studiengang sehr viel beliebter als etwa Maschinenbau. Bei letzterem liegt der Frauenanteil zwischen fünf und zehn Prozent. Für Biomechanik entscheiden sich dagegen genauso viele Frauen wie Männer, freuen sich die Professoren.
»Das Grundstudium ist sehr an den Maschinenbau angelehnt«, erklärt Steffen Wolf. Dort werde den Studenten die ingenieurwissenschaftlichen Grundlagen vermittelt. »Sie sollen Kräfte und Bewegungen verstehen können.«
Zum Termin mit der Mittelbadischen Presse hat Wolf die Nachbildung eines menschlichen Oberschenkelknochens mitgebracht. An dem ist ein künstliches Kniegelenk befestigt. »Die technische Mechanik ist im menschlichen Körper dieselbe, wie in einer Maschine«, sagt der Professor. Die Studenten lernten etwa die Hebelwirkung bei der Gelenkstabilisierung durch die Muskulatur zu berechnen. Der zweite Teil des Studiums sei deutlich fachspezifischer, macht Isele deutlich. Dort gehe es dann um die Grundlagen der Gesundheitswissenschaften, um Muskelphysiologie, Orthopädie und Traumatologie.
Deutlich schneller
Die Ausbildung der Studenten der angewandten Biomechanik geht noch einmal deutlich darüber hinaus. Die an der Hochschule gelehrten Inhalte sind dieselben. Allerdings absolvieren sie an der Physiotherapieschule Ortenau in Willstätt eine Ausbildung zum Physiotherapeuten. Vorteil: Ausbildung und Studium würden einzeln deutlich länger dauern. Für die Ausbildung an der Schule müssen die Studenten allerdings jeden Monat rund 400 Euro bezahlen.
Einen Master-Studiengang zur Biomechanik bietet die Hochschule aktuell noch nicht an. In einigen Jahren sei aber ein Masterprogramm denkbar, so Isele.
Stolz sind die beiden Professoren darauf, dass es ihnen gelungen ist, mit dem Universitätsklinikum in Freiburg eine Kooperation einzugehen. Ein Teil der Dozenten stellt das Klinikum. Außerdem können die Studenten in Freiburg Praktika absolvieren. Die beiden Einrichtungen arbeiten auch bei Forschungsprojekten zusammen. Die Hochschule bringe dabei ihre Mechanik-Kompetenz ein. Isele sieht die Hochschule für die Zusammenarbeit gut aufgestellt. »Dabei geht es um Werkstoffe, Simulation, Festigkeit«, erläutert der Professor. »Diese Fähigkeiten haben wir hier im Haus.«
»Selbstverständlich sind wir auch an einer Kooperation mit dem Ortenau-Klinikum interessiert«, betont Wolf. Erste Kontakte mit den Chefärzten bestünden bereits.
Infotag am Freitag
Beim Infotag am Freitag, 12. Mai, ab 16 Uhr in Raum E008 der Hochschule Offenburg wird unter anderem die Speerwerferin Christina Obergföll über die Bedeutung der Biomechanik für den Leistungssport informieren.