Auf den Punkt gebracht

Die demokratischen Lehren aus Brexit

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11. Juli 2016

Politikwissenschaftler Ulrich Eith. ©Zurbonsen

Politikwissenschaftler Ulrich Eith fordert in seiner Kolumne für die Mittelbadische Presse professionellere Politiker mit Verantwortungsgefühl und Augenmaß. Die Folgen davon, wenn Politiker diese Charaktereigenschaften nicht mit sich bringen, sieht man hervorragend am Beispiel des Brexits.

Die Briten haben sich mehrheitlich für den Austritt aus der EU entschieden. Doch die Umstände und der Ausgang des Referendums in Großbritannien haben die Probleme des Landes eher vergrößert. Die bekannten Frontstellungen – Alt gegen Jung, Großstädte gegen ländlicher Raum, England gegen Schottland – haben sich weiter verfestigt. Die Parteien sind ohne Orientierung und politische Führung. Die Ratingagenturen stufen Großbritannien herunter und mit dem Austritt aus der EU riskiert Großbritannien ernsthaft die nationale Einheit. Selbst die wortmächtigen Anführer der Austritts-Kampagne rudern inzwischen ziemlich kleinlaut zurück. 

Es gibt sehr viele Beispiele für erfolgreiche Bürger- und Volksentscheide, auch auf nationaler Ebene. Diesmal kamen nahezu alle negativen Umstände zusammen. Letztlich unverantwortlich handelte der britische Premier David Cameron. Über Jahre hinweg hat er aufgrund eigener Machtinteressen seine Anti-EU-Rhetorik derart überzogen, dass sein letztendliches Votum für den Verbleib Großbritanniens in der EU nicht wirklich überzeugte. 

Hinzu kommt, dass ihn mit seinem Gegenspieler der Pro-Brexit-Kampagne, dem Londoner Ex-Bürgermeister Boris Johnson, seit frühester Jugend eine tiefe gegenseitige Abneigung verbindet und das Referendum so zum Prestigeduell wurde. Und nicht zuletzt überboten sich große Teile der Boulevardpresse wie Daily Express und Sun mit irrealen Schreckensszenarien über die EU und nicht minder unrealistischen Zukunftsperspektiven nach einem EU-Austritt. Eine nüchterne, faktenorientierte öffentliche Diskussion und Abwägung der Argumente fand unter diesen Umständen kaum statt. 

Vermeintlich heile Welt

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Den Austrittsbefürwortern gelang es, die Stimme für einen Brexit als befreienden, selbstbestimmten Akt gegen das politische und wirtschaftliche Establishment Großbritanniens darzustellen. Wer sich von der Politik sozial benachteiligt fühlt, wer seine Interessen in der Politik nicht mehr ausreichend berücksichtigt sieht, wer persönlich Ohnmacht und Hilflosigkeit empfindet angesichts der derzeitigen internationalen Problemballungen durch Globalisierung, internationaler Terrorismus und Flüchtlingsbewegung, der konnte jetzt per Stimmabgabe aktiv werden und für den Brexit, für den Rückzug in die vermeintlich heile Welt eines unabhängigen, autonomen Großbritanniens votieren.

Die Katerstimmung folgte unmittelbar. Kaum jemand hatte ernsthaft mit diesem Ausgang gerechnet. Die beiden großen Parteien stürzten in eine Führungskrise, deren ganzes Ausmaß sich erst schrittweise abzeichnet. Binnen weniger Stunden sammelte die Jugend Großbritanniens mehrere Millionen Stimmen für eine Wiederholung und damit für eine Korrektur der Abstimmung. Zu spät kommt die Einsicht, dass die Nicht-Ausübung des Wahlrechts eben auch nicht-gewollte Folgen mit sich bringen kann. Und selbst die bislang entschiedensten Verfechter des EU-Austritts überbieten sich derzeit mit öffentlichen Statements, wonach sich ihren Vorstellungen zufolge auch nach dem Brexit im Verhältnis zu Europa substanziell kaum etwas ändern sollte. Eine konkrete Perspektive, wie es denn nun nach diesem Ergebnis weitergehen soll, sieht anders aus.

Liegen auf der Hand

Die Lehren aus dieser verqueren Situation liegen auf der Hand. Vor allem geht es um die Qualität politischer Führung. Das wichtigste Argument für die Repräsentative Demokratie, wie sie sich in Großbritannien und in den USA herausgebildet hat, ist die Chance auf Besonnenheit und Augenmaß bei politischen Entscheidungen. In diesem Punkt haben die politisch Verantwortlichen in Großbritannien, allen voran Premier Cameron, kläglich versagt. Das Spielen und Taktieren mit Emotionen gegen vermeintlich gesichtslose Bürokraten in Brüssel zur Ablenkung von eigenen Fehlern und Schwächen wird leicht zum Bumerang, wenn es zur Volksabstimmung kommt. Oder – um ein Beispiel aus unserem Land anzuführen – wer als bayerischer Ministerpräsident Deutschland wochenlang als Unrechtsstaat bezeichnet, muss sich nicht wundern, wenn sich politische Extremisten in ihrer Sicht bestätigt fühlen und einen Kronzeugen vorweisen können. 

Von professionellen Politikern muss man erwarten können, dass sie vorhandene Probleme nicht nur klar benennen, sondern hierfür auch sachgerechte und praktikable Lösungen in die Diskussion einbringen. Natürlich geht es in der Politik immer auch um Fragen der Durchsetzungsfähigkeit und Macht. Die öffentliche Meinung ist hierbei ohne Zweifel eine wichtige Ressource. Wer allerdings in populistischer Zuspitzung vor allem auf die Wirkung von Angst und Emotionen statt rationaler Aufklärung setzt, wird die gerufenen Geister dann auch nicht wieder los. Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß hat bereits Max Weber als zentrale Tugenden von Politikern herausgestellt.

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