Die Macht des Europarats
Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Region sieht Gerhard Küntzle auf einem guten Weg. Was den Europarat betrifft, so hält er Verhandlungen mit Russland für notwendig, weil dieses Land nicht mehr allen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte folgen will. Der aus Bietigheim-Bissingen stammende Küntzle (60) leitet seit September als Botschafter das deutsche Generalkonsulat in Straßburg und die Ständige Vertretung beim Europarat.
Herr Küntzle, im Dezember haben in Frankreich Regionalwahlen stattgefunden. Haben Sie aufgeatmet, als der im ersten Wahlgang siegreiche rechtsextreme Front National (FN) eine Woche später auch in der Ostregion Elsass/Champagne-Ardenne/Lothringen letztlich doch zurückgedrängt wurde?
Gerhard Küntzle: Ich freue mich darüber, dass wir mit dem jetzt gewählten Regionalratspräsidenten Philippe Richert von den Republikanern einen Partner haben, den wir kennen und von dem wir wissen, dass er sich für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit einsetzt.
Wäre diese Kooperation am Oberrhein bei einem Sieg des FN-Spitzenkandidaten Florian Philippot ins Hintertreffen geraten?
Küntzle: Im Programm des Front National stehen Passagen, die nicht europäischen Grundsätzen entsprechen. Deswegen waren wir vor der Wahl besorgt über die Zukunft der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Der Ausgang der Wahl erlaubt es uns nun, die deutsch-französische grenzüberschreitende Zusammenarbeit wie gewohnt – und hoffentlich noch intensiver – fortzusetzen.
Wie können Sie als Vertreter der Bundesregierung die Zusammenarbeit in der Trinationalen Kooperation Oberrhein und im Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau konkret unterstützen?
Küntzle: Zum einen informieren wir Berlin über die wesentlichen Entwicklungen hier in der Region. Zum anderen führen wir kleinere Projekte durch – etwa im kulturellen Bereich. Unsere zentrale Aufgabe ist es jedoch, Kontakte zu Entscheidungsträgern auf beiden Seiten zu vermitteln. Insgesamt sind die grenzüberschreitenden Verbindungen schon erfreulich stark.
Die Akteure am Oberrhein wollen vieles verwirklichen, wozu man die Hilfe der nationalen Regierungen braucht – etwa die Förderung der Zweisprachigkeit, den Bau neuer Rheinüberführungen und kulturelle Initiativen. Können Sie da einen Anstoß geben?
Küntzle: Gefragt sind hier in erster Linie Gebietskörperschaften in der Region wie der Eurodistrikt, die Kommunen, auch die baden-württembergische Landesregierung. In bestimmten Gremien wie der seit nunmehr 40 Jahren bestehenden trinationalen Regierungskommission Oberrhein ist auch die Bundesregierung mit dabei.
Kritiker sagen, dass trotz aller grenzüberschreitenden Bemühungen am Oberrhein die Bürger wenig vom jeweiligen Nachbarland wissen. Stimmt das?
Küntzle: Ich denke nicht. Nicht nur die Entscheidungsträger, sondern auch viele Bürger pflegen intensive grenzüberschreitende Kontakte. Ich war kürzlich bei dem Festakt anlässlich des 60-jährigen Bestehens der Städtepartnerschaft zwischen Karlsruhe und Nancy dabei und konnte mich von der Intensität dieser Beziehung überzeugen. Natürlich gibt es aber immer Dinge auf unserem Aufgabenzettel, die noch offen sind: Ich zum Beispiel fände einen grenzüberschreitenden Veranstaltungskalender eine tolle Sache.
Vor rund drei Jahren wurden in Straßburg die Ständige Vertretung Deutschlands beim Europarat und das Generalkonsulat zusammengelegt, und Sie leiten beide Einrichtungen. Wurden bei der Fusion konsularische Leistungen für die Bürger verringert?
Küntzle: Einige Dienstleistungen wie die zentrale Visa-Beantragung werden nun in der Tat von der deutschen Botschaft in Paris erledigt. Gleichwohl bieten wir in Straßburg einen maßgeschneiderten Service für die Bürger an. Das betrifft insbesondere die Ausstellung und Verlängerung von Pässen und Personalausweisen.
Der Europarat ist einer breiteren Schicht kaum bekannt und wird fälschlicherweise sogar manchmal als Organ der Europäischen Union bezeichnet. Was macht der Europarat konkret?
Küntzle: Der Europarat ist ein zentrales Forum für die Schaffung eines einheitlichen europäischen Rechtsrahmens und einer Wertegemeinschaft. Hier kommen Vertreter von Regierungen aus 47 Mitgliedsstaaten zusammen. Diese haben sich selbst verpflichtet, bestimmte Rechtsvorschriften, die sie vereinbaren, einzuhalten und sich auf Werte, die für ganz Europa gelten sollen, zu verständigen.
Das klingt aber alles ziemlich theoretisch.
Küntzle: Das kann aber sehr konkrete Auswirkungen haben. Ein wichtiges Beispiel ist die schon 1950 verabschiedete Europäische Menschenrechtskonvention. Gerade die Wahrung der Menschenrechte ist ein wichtiges Handlungsfeld des Europarats. Der auch in Straßburg angesiedelte Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der zum Europarat gehört, kann von jedem Bürger aus den Mitgliedsstaaten angerufen werden. Die Vielzahl der dort anhängigen Verfahren zeigt, dass dieses Instrument genutzt wird. Auch die sogenannte Venedig-Kommission des Europarats übt einen beträchtlichen Einfluss aus. Es handelt sich um ein hochkarätig besetztes Juristengremium, das Länder wie die Ukraine bei Verfassungsänderungen oder größeren Gesetzgebungsvorhaben berät.
Der Europarat legt sich mit vielen Ländern an. Man diskutiert über politische Gefangene in Aserbaidschan, kritisiert die Tolerierung des Menschenhandels durch Ungarn oder moniert die Parlamentswahl in der Türkei. Kann sich dieser internationale Zusammenschluss überhaupt gegen die autokratischen Regierungen dieser Länder durchsetzen?
Küntzle: Der Europarat wird schon gehört. Der Generalsekretär des Europarats muss darüber wachen, dass die vereinbarten Standards eingehalten werden. Er kann auch das Ministerkomitee mit Vertretern aus allen Mitgliedsstaaten einschalten, um zu beraten, wie im Konfliktfall zu verfahren ist.
Hand aufs Herz: Verhallen Appelle des Europarats nicht sehr oft ungehört?
Küntzle: Es gibt – und das ist vielleicht gleichzeitig eine Schwäche und eine Stärke des Europarats – immer einen Dialog, der aber längst nicht immer öffentlich geführt wird. Da können sich durchaus Dinge bewegen. So wurde im Dezember die Menschenrechtsverteidigerin Leyla Yunus in Aserbaidschan aus der Haft entlassen, was vorher kaum einer für möglich gehalten hatte. Wir bohren manchmal dicke Bretter, erreichen aber auch Erfolge.
Oft kritisiert werden Menschenrechtsverletzungen in Russland. Gegen dieses Land werden die meisten Klagen beim Straßburger Gerichtshof eingereicht. Kann man einen Machtmenschen wie Präsident Wladimir Putin zur Umkehr bewegen?
Küntzle: Die Verfahren bewirken durchaus etwas, weil die russische Regierung auf die meisten dieser Klagen reagiert. Trotzdem kann es Kontroversen geben.
Vor kurzem wurde in Russland entschieden, dass dort nicht mehr alle Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umgesetzt werden müssen.
Küntzle: Im Europarat wird aufmerksam beobachtet, wie sich die Praxis in Russland hierzu entwickelt. Es ist auch hier von großer Bedeutung, dass wir mit Russland im Gespräch bleiben.
Wie gehen Sie mit Klagen des Europarats über Deutschland um? So wurden im vergangenen Jahr eine zunehmende Fremdenfeindlichkeit und Lücken bei der Aufklärung rechtsextremer Vorfälle moniert. Auch deutsche Richter gerieten in die Kritik: Sie hatten den NPD-Slogan »Lieber Geld für Oma, nicht für Sinti und Roma« als rechtskonform eingeschätzt.
Küntzle: Deutschland bemüht sich generell um eine hohe Transparenz. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt klargestellt, dass die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte akzeptiert werden. Auch bei der von Ihnen angesprochenen Kritik an einer zunehmenden Fremdenfeindlichkeit stellen wir uns der Verantwortung. Die Vorwürfe basieren auf einem Bericht, den der Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muiznieks, Anfang Oktober vorgelegt hat. Bundesjustizminister Heiko Maas hat den Bericht entgegengenommen. Jetzt wird darüber beraten, wie man dessen Empfehlungen – etwa zur stärkeren Bekämpfung von Rassismus und Ausländerfeindlichkeit – umsetzen kann. Gleichzeitig sollte man aber nicht übersehen, dass der Generalsekretär des Europarats, Thorbjörn Jagland, das Verhalten Deutschlands in der Flüchtlingskrise ausdrücklich gelobt hat.