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»Die Stadt als Lebensraum der Zukunft«

Reinhard Reck
Lesezeit 8 Minuten
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08. April 2014

Straßburg von oben: mit seinen verwinkelten Gassen und alten Häusern ist das Zentrum eine weltbekannte Tourismusattraktion. Aber auch für Anwohner wird die Innenstadt zunehmend attraktiver. ©Stephan Hund

Straßburg, aber auch andere Metropolen gewinnen an Attraktivität als Lebensraum. Allerdings verbinden sich mit diesem Trend neue Herausforderungen für die Gestaltung der Zentren. Das erklärt der Architekt und Stadtplaner Dominik Neidlinger (46) im Interview. Er ist Professor an der Straßburger Architektur-Hochschule ENSA und auch freiberuflich tätig.

Herr Neidlinger, Straßburg ist ein Monument, das Zentrum mit seinen historischen Bauwerken gehört zum Unesco-Weltkulturerbe. Es stellt eine Touristenattraktion und einen wichtigen Geschäftsstandort dar. Sollten dort eigentlich noch Leute wohnen?
Dominik Neidlinger: Unbedingt. Das ist ja gerade das Attraktive an Straßburg und an vielen anderen französischen Städten, dass die Zentren oft stark bewohnt sind und nicht  nur Platz für Geschäfte und Büros bieten. Die Innenstadt bietet eine hohe Lebensqualität – ich selber wohne auch mitten im Straßburger Zentrum und genieße es.
In der 60er- und 70er-Jahren waren die Innenstädte oft charakterisiert durch riesige Ströme von Blechkisten, kahle Betonklötze und Geschäfte. Ist eine Rückbesinnung auf den »Lebensraum Stadt« erfolgt?
Neidlinger: Das ist richtig. In den 70er-Jahren zog die Mittelschicht aus der Stadt in die Peripherien, in die klassischen Ein-Familien-Haus-Gebiete. Heute wollen viele junge Familien in zentralen Vierteln mit guter Infrastruktur leben. Und wir haben die »Generation 60+«, die einst die Stadtkerne verlassen hat und jetzt die Stadt wieder erobert. Gerade die aktive Rentnergeneration ist für die künftige Stadtplanung von großer Bedeutung. Das betrifft meiner Einschätzung nach Deutschland mehr als Frankreich.
Einen Umzug kann sich wegen der hohen Immobilienpreise nicht jeder leisten.
Neidlinger: Da muss die Kommunalpolitik gegensteuern, wenn sie die Innenstädte attraktiver machen will. Wichtig ist beispielsweise eine Förderung des sozialen Wohnungsbaus gerade in den Stadtgebieten. Eine große Herausforderung ist auch die Zunahme des Autoverkehrs, die eine Förderung des öffentlichen Nahverkehrs notwendig macht.
Reagieren die Städte auf diese Entwicklung?
Neidlinger: Die allermeisten Städte haben schon seit Längerem die Zeichen der Zeit erkannt. Man hat ja schon in den 80er-Jahren Fußgängerzonen eingerichtet, den öffentlichen Raum aufgewertet und die Infrastruktur – etwa durch den Bau von Schulen und Stadtteilzentren – verbessert. Viele Innenstadtschulen waren ja früher verpönt.
Nennen Sie mal ein Beispiel.
Neidlinger: Ein Beispiel in Karlsruhe dafür ist die Regio-S-Bahn, die weit bis in die Umgebung und in den Schwarzwald fährt. Dort wurde – wie auch in Freiburg und andernorts – viel in die Gestaltung der Innenstadt investiert. Überall ist man bestrebt, mit einem effizienten öffentlichen Nahverkehr und einer guten Parkraumbewirtschaftung mit attraktiven Preisen das Auto weitgehend überflüssig zu machen.
Offenbar hat auch ein Mentalitätswechsel stattgefunden. Viele verließen ja früher die Zentren nicht nur, weil es außerhalb billiger war, sondern weil sie mehr in der Natur leben wollten. Hat sich da der Trend gedreht?
Neidlinger: Ich glaube, die Leute wollen beides inzwischen. Sie fragen sich: Wie kann ich in der Stadt bleiben und trotzdem das Grüne genießen? Man will quasi das Unvereinbare vereinbaren und sucht das Dorf in der Stadt. Gerade in Straßburg wurde viel getan, um die Grünflächen zu erweitern.
Straßburg befindet sich in einem langwierigen Prozess. 1973 wurde beim Münster die erste Fußgängerzone eingeweiht. Bis in die 90er-Jahre war der heute autofreie Kleberplatz vom Autoverkehr überschwemmt. Wie beurteilen Sie die Bemühungen der Stadt, das Zentrum wieder zum Lebensraum zu machen?
Neidlinger: Straßburg hat sich allein in den vergangenen zehn Jahren, in denen ich in Straßburg lebe, stark verändert. 1994 wurde die Straßenbahn wieder eingeführt. Damit einher ging die Schaffung von Fußgängerzonen und der rasche Ausbau des Radwegenetzes, welches in Straßburg nun eine Länge von mehr als 530 Kilometern hat. Über 20 Prozent der Fortbewegungen finden in der Stadt per Rad statt.
Und wie sieht es in den Randgebieten von Straßburg aus?
Neidlinger: Auch da wurde viel verbessert. Ich denke da an Problemgebiete wie Neuhof. In solchen Brennpunktvierteln hat man große städtebauliche Projekte durchgeführt. Die Stadt hat versucht, eine gewisse Kohärenz in die Entwicklung zu bringen, also die Trennung zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen zu überwinden. Auch da ist die Straßenbahn von großer Bedeutung. Denken Sie auch an den Stadtteil Neudorf oder die Umlandgemeinde Schiltigheim, die eine Renaissance erleben und an Attraktivität gewinnen.
Braucht man andere Häuser, wenn man die Zentren attraktiver gestalten will?
Neidlinger: Heute ist Flexibilität ganz wichtig. Diese klassische Drei- oder Vier-Zimmer-Wohnung mit einem klar festgelegten Grundriss, wie man es sich noch in der 60er- und 70er-Jahren vorstellte, hat sich überlebt. Das hing natürlich damals mit dem klassischen Familienmodell – Vater, Mutter und zwei Kinder – zusammen, was heute auch ganz anders geworden ist. Denken Sie nur an die Patchwork-Familien oder die vielen Alleinerziehenden. Flexibilität heißt auch, dass Nutzungsmischungen möglich sein müssen. Wir brauchen nicht mehr nur reine Büro- und reine Wohnhäuser. In Straßburg haben wir dafür ein Beispiel aus älterer Zeit – nämlich die um die Wende zum 20. Jahrhundert zur Zeit der deutschen Annexion gebaute »Neustadt«. Die Häuser in diesem Viertel sind extrem begehrt, weil sich die Räumlichkeiten als Büros und als Wohnungen nutzen lassen.
Die Gestaltung des Stadtzentrums als Lebensraum ist ein Balanceakt, weil man vielen Interessen Rechnung tragen muss. Umstritten ist besonders das Auto: Manche wollen es gar nicht im Zentrum haben, andere wie die Einzelhändler oder Anwohner sind darauf angewiesen. Kann man da eine Balance schaffen?
Neidlinger: Man darf das Auto nicht verteufeln. Ein Stadtzentrum ohne Verkehr ist wie ein Museum, und wer will schon in einem Museum leben! Der Ansatz für die Zukunft ist, Fußgänger und Radfahrer zu ihrem Recht zu verhelfen, ohne den motorisierten Individualverkehr völlig zu verbannen. Da gibt es in Straßburg zukunftsweisende Ansätze wie die Schaffung von Begegnungszonen (Zones de rencontres) – beispielsweise in der Rue des Frères beim Münster. Auch bei der »Magistrale für Fußgänger« (Magistrale piétonne), die von Neudorf zum Straßburger Hauptbahnhof verlaufen soll, verfolgt man  diese Philosophie – und das ist für alle ein Gewinn.  Man kann dort durchaus auch für kurze Zeit parken, das ist für die Einzelhändler nicht unwichtig.
Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für Straßburg bei der Stadtentwicklung?
Neidlinger: Ich denke, bei der Entwicklung der Innenstadt ist man auf einem guten Weg. Das wichtigste Projekt ist die Verlängerung der Stadt an den Rhein – die sogenannte Achse Straßburg-Kehl. Mit dem Neubau des Grenzviertels »Port du Rhin« und dem Ausbau der Tram bis Kehl wurden schon entscheidende Maßnahmen eingeleitet. Für sehr gut halte ich den Ansatz, in diesem Problemviertel auf eine Bevölkerungsmischung zu setzen und mit der Straßenbahn »Port du Rhin« ans Zentrum anzubinden. Aber trotzdem sind noch viele Probleme zu lösen. Muss man sich überlegen, was man mit dem Hafengelände macht. Dieses ist teilweise ungenutzt und befindet sich in einem Umstrukturierungsprozess. Auch sollte man bei der Gestaltung Akzente setzen. Es geht ja nicht darum, die Stadt bis zur Grenze zuzubetonieren, sondern eher bebaute Inseln – ähnlich wie Archipel – zu schaffen, die sich mit Grünzonen abwechseln. Schließlich haben wir den Rhein in der Nähe. 
Wie wird das Leben in der Stadt der Zukunft aussehen?
Neidlinger: Die Stadt ist trotz aller Probleme der Lebensraum der Zukunft. Es handelt sich um das ökonomischste und wohl auch nachhaltigste Modell des Zusammenlebens. Wir können nicht unbegrenzt mit dem rasanten Flächenverbrauch so weitermachen. Allein in Baden-Württemberg wuchsen im Jahr 2012 die Verkehrs- und Siedlungsflächen um rund 2450 Hektar – das entspricht 3500 Fußballfeldern. Auch denke ich, dass es in der Stadt am leichtesten ist, die Bereiche Wohnen, Arbeiten und Freizeit zusammenzuführen. Wichtig ist allerdings, den Immobilienmarkt mit intelligenten Projekten zu steuern, da die Immobilienpreise in größeren Städten in der Regel sehr hoch sind. Nur so kann eine Segregation, eine Abschottung von Stadtteilen und somit von Bevölkerungsgruppen, verhindert werden. Auch werden viele Städte auf ehemaligen Industriearealen – ich denke konkret an die Umnutzung von Straßburger Hafengebieten und von früheren Braue­reiflächen in Schiltigheim von Straßburg – Akzente setzen. Für jeden sollte Platz in der Stadt sein.

 

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Studie: Zug in die Großstädte

Wie eine 2012 von der Immowelt AG und dem Marktforschungsinstitut Innofact vorgelegt Studie zeigt, gewinnen die Städte an Attraktivität. 67 Prozent der Kleinstadt- und Dorfbewohner liebäugeln danach mit einem Umzug in die Großstadt. Im Jahr 2009 hatte dieser Anteil noch bei 47 Prozent gelegen. Kurze Entfernungen und die gute ärztliche Versorgung machen die Großstadt aus Sicht von 43 Prozent der über 50-Jährigen zum idealen Alterswohnsitz. Diese Ansicht wird von den meisten unter 30-jährigen aber nicht geteilt.
Die Gründe für die Anziehungskraft der Großstädte sind der Untersuchung zufolge besonders die größere Zahl von Freizeit- und Kulturangeboten. Bessere Chancen, einen Job zu bekommen oder ein kürzerer Weg zur Arbeit fallen dagegen etwas weniger ins Gewicht. Von geringer Bedeutung ist eine bessere Auswahl bei den Schulen.

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