Serie "Treffen der Generationen"

»Hör auf zu weinen, Trautchen!«

Victoria Hof
Lesezeit 5 Minuten
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23. Oktober 2014

»Es war ein gutes Leben«: Waltraud Heim ©Ulrich Marx

Was bewegt uns? Was erwarten wir vom Leben? Und welche Momente lassen uns nicht mehr los? Für eine Serie hat die Mittelbadische Presse mit Menschen aller Generationen gesprochen: Sie alle suchen das Glück und trotzen dem Schicksal. In der zweiten Folge kommt Waltraud Heim (90) zu Wort.

Elegante Ohrringe und eine passende Goldkette über der weißen Bluse: Waltraud Heim, 90 Jahre alt, hat sich extra schick gemacht. Ihre Haare sind weiß, die Augen blau, und hellwach. Ein Interview für die Zeitung? »Ich hab nichts zu verbergen und viel zu erzählen!«, sagt die Bewohnerin des Offenburger Vinzentiushauses und lacht laut und herzlich.

Mir geht es gut hier. Obwohl ich manchmal eine freche Gosch’ habe, sind alle Schwestern und Pfleger lieb. Ich mach halt gerne mal Quatsch. Aber dass man lachen kann, ist ja auch wichtig. Auch über sich selbst muss man lachen können. Ich nenne mich selber »alter Karton«, denn genau das bin ich ja inzwischen. Keine gewöhnliche »alte Schachtel«, eher ein alter Karton. Aber mir geht es gut, denn ich kann noch reden und denken. Und das ist nicht selbstverständlich. Viele hier um mich herum können das nicht mehr, sie sitzen einfach nur da. Solange ich reden und denken kann, beschwere ich mich nicht. Und wenn es meinen Kindern gut geht, geht es mir auch gut.

An der Wand hängen Fotos. Erinnerungen an ein langes Leben. Waltraud Heim zeigt sie alle: die Kinder, die Enkel, die Urenkel, den vor wenigen Jahren verstorbene Ehemann.

Er war ein sehr schöner Mann. 62 Jahre lang war ich mit ihm verheiratet. Er war gut zu mir, er hat alles für mich getan. Die Zeit verfliegt nur so, ich weiß gar nicht, wo sie geblieben ist. Ich fühle mich wie 70, dabei bin ich jetzt 90. Ein Tag nach dem anderen vergeht. Und ich hoffe, dass ich noch lange leben darf. 100 Jahre alt möchte ich werden. Und mit der Krankheit habe ich mich abgefunden, es gibt ja Schlimmeres. Ich muss zwar im Rollstuhl sitzen, weil meine linke Seite nicht mehr gehorcht. Aber vieles klappt noch. Ich kann mich selber waschen und brauche nur beim Zähneputzen und Anziehen Hilfe. Selbständigkeit ist mir wichtig. Und es ärgert mich manchmal, wenn mein Arm nicht so will wie ich. Früher habe ich viel Sport getrieben, Fechten und Völkerball. Vielleicht will ich deshalb fit bleiben. Als Kind wollte ich auch unbedingt Klavierstunden bekommen. Eigentlich hatte mein Vater mir das versprochen, aber es hat dann doch nicht geklappt. Für ein Klavier wäre auch gar kein Platz gewesen. Später habe ich Akkordeonspielen gelernt, aber ich habe dann Rücksicht auf die Nachbarn im Haus genommen, es hat sie gestört. Rücksicht zu nehmen ist wichtig, es kann nicht jeder machen, was er will.

Waltraud Heim lacht viel. Sie zwinkert ihrem Gegenüber zu und macht Späßchen. Doch jetzt ist sie ernst. Ihr Blick streift ein gerahmtes Bild auf der Kommode. Es zeigt ihre Eltern.

Ich hatte eine schöne Kindheit, ich war behütet und beschützt. Denn meine Mutter war eine gute Mutter. Sie hat es nicht leicht gehabt, die arme Frau hat zehn Kinder zur Welt gebracht. Es war unvernünftig von meinem Vater, ihr das zuzumuten. Aber wir Kinder hatten es gut. Wir hatten einen großen Garten und ein Bassin mit Wasserpumpe. Ich erinnere mich, wie meine kleine Schwester im Wasser tanzt. Meine Mutter hat als Zimmermädchen gearbeitet, bevor die Kinder kamen. Dann hatte sie so viel Arbeit mit uns, sie musste alles von Hand waschen. Heute haben es die Frauen einfacher, sie haben ja Waschmaschinen.

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An der Wand über dem Bett hängt ein gerahmtes Bild, es zeigt eine auffallend schöne junge Frau mit dunklen Haaren: Waltraud Heim. Die heute 90-Jährige seufzt.

Am liebsten wäre ich wieder jung, die Zeit sollte rückwärts laufen. Ein Leben ist nicht lang genug, es vergeht so schnell. Manchmal ist es traurig, manchmal schön. Das glücklichste Jahr meines Lebens war 1943. Und zugleich war es das Traurigste. Ich habe damals in Darmstadt einen Offizier kennengelernt. »Darf ich Sie begleiten«, hat er gefragt. Ich stand am Fahrkartenschalter, war auf dem Weg zum Rote-Kreuz-Kurs, mitten im Krieg. Er hat mich zum Kurs begleitet und vor dem Haus gewartet, bis ich wieder zurück kam. Ich habe diesen Offizier sehr geliebt. Aber wir haben nicht geschmust, wir waren brav und wollten warten. Und dann ist er an der Front gefallen. Es kam ein Brief, in dem stand: »Gefallen für Großdeutschland«. Das war’s dann. So sind die Leute damals verheizt worden. Ich habe lange geweint, das war schlimm. »Hör auf zu weinen, Trautchen«, hat meine Mutter gesagt. »Es gibt Frauen, die sind schlimmer dran als du, die haben Kinder«.

Waltraut Heim gähnt. Als habe sie das Stöbern in der Vergangenheit müde gemacht. Sie entschuldigt sich, wir brechen das Interview ab. Dann will sie noch etwas sagen. Etwas Wichtiges.

Es war ein gutes Leben. Aber ich bereue, dass ich als junge Frau einmal meinen Chef belogen habe. Das beschäftigt mich bis heute. Das Wichtigste aber ist, dass man gesund ist. Und fröhlich. Und man braucht vor nichts Angst zu haben, denn unser Schöpfer macht alles richtig. Er ist ein gerechter, liebender Gott.

 

Die gesamte Zeitungsseite mit weiteren Infos finden Sie rechts oben als pdf-Datei.
Alle Folgen zur Serie finden Sie untenstehend unter dem Schlagwort »Generationen».

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