Nachrichten
Dossier: 

Vermisst, aber nicht vergessen!

Steve Przybilla
Lesezeit 6 Minuten
Jetzt Artikel teilen:
24. Januar 2015
Mehr zum Thema

Diese Polizisten suchten im August 2014 bei Karlsruhe nach einer vermissten Frau. ©dpa

Und plötzlich sind sie weg, einfach so: Mehrere Tausend Menschen gelten in Deutschland derzeit als vermisst. Trotz moderner Technik und internationaler Fahndungen wird die Polizei nicht immer fündig. Helfen können oft nur private Suchdienste – und quotenstarkes Fernsehen.

Samstag, 4. Mai 2013: Es ist der Tag, den Marias Mutter nie vergessen wird. »Ich schlafe bei einer Freundin«, sagt die damals 13-Jährige zum Abschied – eine Lüge, wie sich später herausgestellt. Tatsächlich trifft sich die junge Freiburgerin mit Bernhard H., einem 53-jährigen Mann, den sie aus dem Internet kennt.

Die Polizei gründet eine Sonderkommission, schaltet Interpol ein, druckt Fahndungsplakate in mehreren Sprachen. Zunächst sogar mit Erfolg: In der Slowakei beobachtet ein Kellner das Paar beim Händchenhalten. In Polen findet die Polizei kurz da­rauf das Auto von Bernhard H. Danach – nichts. Maria ist bis heute verschwunden (Stand: Januar 2015).

Über 900 Hinweise sind seither eingegangen, bestätigt die Polizei. Der Fall schafft es sogar in die TV-Sendung »Aktenzeichen XY« – ein öffentlicher Hilferuf, der die Aufmerksamkeit auf ein unbequemes Thema lenkt. Denn Maria ist nur einer von vielen Menschen, die in Deutschland spurlos verschwinden. Sie schalten ihre Handys aus, damit sie nicht geortet werden können, verlassen ihr Zuhause und sind weg. Einfach so. Laut Bundeskriminalamt (BKA) gelten derzeit 6774 Personen als vermisst, davon 596 Kinder unter 13 Jahren.

Die gute Nachricht: Die Liste stellt nur eine Momentaufnahme dar. Jeden Tag landen 200 bis 300 Personen im »Informationssystem der Polizei« (INPOL), werden aber meist nach kurzer Zeit wieder gelöscht. »50 Prozent aller Vermisstenfälle erledigen sich innerhalb einer Woche«, sagt BKA-Sprecherin Jennifer Kailing. »80 Prozent der Gesuchten tauchen nach spätestens drei Monaten wieder auf. Bei Kindern bis 14 Jahren beträgt die Aufklärungsquote sogar 99 Prozent.« Die Gründe, warum Menschen weglaufen, sind unterschiedlich, und nicht immer steckt ein Verbrechen dahinter. Liebeskummer, Ehestreit, Geldnot – all das kann dazu führen, dass sich jemand absetzt.

Wenn die Beamten auch nach mehreren Monaten erfolglos bleiben, wird die Sonderkommission irgendwann aufgelöst – so auch im Fall Maria. Die Chancen, einen Vermissten dann noch zu finden, sind gering. Er müsste durch Zufall von der Polizei kontrolliert werden, in deren Computer die Suche bis zu 30 Jahre weiterläuft. Doch das ist vielen Angehörigen zu wenig. Weltweit haben sich deshalb private Suchdienste gegründet, die mithilfe des Internets weiterforschen.

»Ich habe es gewagt, in der DDR den Mund aufzumachen«, erzählt Eva Siebenherz (55). Sie landet als politische Unruhestifterin im Gefängnis, ihre damals zwei und drei Jahre alten Kinder werden zwangs­adoptiert. »Ich habe mein Leben lang nach ihnen gesucht«, erzählt Siebenherz, die mithilfe des Fernsehens tatsächlich fündig wird. Doch das Wiedersehen endet im Desaster. »Man kann 25 Jahre eben nicht nachholen.« Damit andere schneller Erfolg haben, gründet Siebenherz 2008 einen privaten Suchdienst, der fast 2000 Vermisste innerhalb von sechs Jahren aufspürt.

Heute wird ihr Portal unter dem Namen »Help2Find.it« fortgeführt. »Unsere Seite ist noch immer kostenlos«, betont der Geschäftsführer Richard Eiterer. Fünf Freiwillige in Österreich und Deutschland helfen bei der Recherche, indem sie zum Beispiel Telefonbücher durchforsten oder Facebook-Anfragen starten. »Dadurch lösen wir jeden fünften Fall«, sagt der Unternehmer, der hauptberuflich zwei Firmen leitet. Rund 3300 Personen sind auf dem Portal aktuell zur Suche ausgeschrieben.

- Anzeige -

Das Schicksal von Vermissten bringt auch gute Einschaltquoten. Wenn die RTL-Sendung »Vermisst« läuft, sitzen pro Staffel über fünf Millionen Menschen vor dem Fernseher. Beim Konkurrenzprogramm »Julia Leischik sucht: Bitte melde dich« (Sat1) sind es fast genauso viele. Beide Sender beteuern, ihre Fälle seien nicht gestellt. Oft führt die große Bekanntheit der Shows tatsächlich zum Erfolg. Zum Beispiel bei Julia Leischik: Über 40 Angehörige konnte die Moderation bisher wieder zusammenbringen – immerhin.

Dass im großen Stil und öffentlich nach Vermissten gesucht wird, geht auf einen Fall in den USA zurück. Im Oktober 1979 erschütterte dort eine Vermisstenmeldung das Land. Der sechsjährige Etan Paz verschwand in New York spurlos auf dem Weg zum Schulbus. Jahrelang fahndeten die Ermittler erfolglos. Erst Jahrzehnte später, im Mai 2012, verhaftete die Polizei einen Handwerker, der damals im Nachbarhaus gearbeitet hatte. Der mutmaßliche Täter gestand, Etan mit Limonade angelockt, erwürgt und die Leiche im Anschluss zwischen Straßenmüll entsorgt zu haben.

Obwohl der Fall lange nicht aufgeklärt werden konnte, rückte er vermisste Kinder ins Bewusstsein der Bevölkerung. Der damalige Präsident Ronald Reagan rief 1983 sogar einen »Tag der vermissten Kinder« ins Leben. Auch die Suchaktionen wurden kreativer. So war Etans Steckbrief der erste, der auf einer Milchtüte erschien – die Geburtsstunde einer neuen Fahndungsmethode. Mithilfe des Kinderschutzvereins National Child Safety Council verbreitete sich die Aktion im gesamten Land. Millionen von Milch- und später auch Einkaufstüten wurden fortan mit Fotos von Vermissten bedruckt.

Wie viele Kinder auf diese Weise gefunden werden konnten, ist nicht bekannt. Fest steht jedoch, dass die Steckbriefe auch eine beispiellose Panik auslösten. Viele Amerikaner bringen noch heute ihre Kinder im Auto zur Schule, unbegleitete Ausflüge auf den Spielplatz sind tabu – und das, obwohl die Kriminalität nur gefühlt zugenommen hat. »Ein Kind, das zur Haltestelle läuft und nie wieder zurückkommt, ist eine einzelne Tragödie, aber keine nationale Seuche«, sagt der Sozialwissenschaftler David Finkelhor, ein Experte für Kindesmissbrauch an der Universität von New Hampshire (USA). Seit den 70er-Jahren hätten solche Fälle nicht zugenommen.

Heute hat die Milchtüten-Fahndung ausgedient, weil sich Vermisstenmeldungen über das Internet sehr viel schneller verbreiten lassen. In Deutschland kam sie aus Datenschutzgründen von vornherein nie zum Einsatz. Immerhin tauchen verschwundene Kinder in der Regel nach kurzer Zeit wieder auf – so schnell könnte man die Produktion der Milchtüten gar nicht stoppen.

Eine weitaus systematischere Suche hat das Deutsche Rote Kreuz nach Ende des Zweiten Weltkriegs aufgebaut. Hunderttausende waren damals aus ihrer Heimat vertrieben worden, befanden sich auf der Flucht oder in Gefangenschaft – doch wer genau, das wusste niemand. Zum einen, weil große Teile Europas in Schutt und Asche lagen. Zum anderen, weil Handys und E-Mails noch nicht existierten. Der Suchdienst des DRK machte es sich daher zur Aufgabe, Vermisste und ihre Angehörige wieder zusammenzubringen.  Noch heute sind 1,3 Millionen Menschen in der zentralen Namenskartei gespeichert – allein aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs.

»Natürlich leben die meisten Vermissten heute nicht mehr«, räumt Suchdienst-Mitarbeiterin Iris Mitsostergios ein. »Aber noch immer wollen die Menschen wissen, was aus ihren Angehörigen geworden ist. Mithilfe von Militärarchiven können wir viele Schicksale klären.« Heute ist der DRK-Suchdienst (180 Mitarbeiter) weltweit aktiv: Er hilft Opfern von Kriegen und Naturkatas­trophen – und Spätaussiedlern, die Verwandte in Deutschland suchen.

Hintergrund

Die Situation in der Ortenau

2014 wurden in der Ortenau 61 Personen als vermisst gemeldet. 58 Fälle davon wurden geklärt. Bis heute (Stand: 1. Januar 2015) werden in der Ortenau noch drei Personen aus 2014 vermisst. Die drei Erwachsenen stammen aus Achern, Offenburg und dem Kinzigtal, wie Patrick Bergmann vom Polizeipräsidium Offenburg angibt.

In der Ortenau werden laut Polizeipräsidium pro Jahr durchschnittlich 150 Menschen als vermisst gemeldet. Ein Großteil davon taucht nach wenigen Stunden oder Tagen wieder auf. Einen Schwerpunkt der vermissten Menschen bilden Patienten aus psychiatrischen Kliniken, die von einem genehmigten Ausgang nicht zurückkommen. Viele weitere Vermisste sind Partner, die sich nach Streitigkeiten eine Auszeit nehmen, oder Kinder, die vergessen haben, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt zu Hause hätten sein müssen.

Ein Mensch gilt als vermisst, wenn er seinen gewohnten Lebenskreis verlassen hat und der Aufenthaltsort unbekannt ist. Dies gilt uneingeschränkt für Minderjährige. Bei vermissten Erwachsenen muss die Annahme hinzukommen, dass sich der Mensch in einer hilflosen Lage befinden könnte und/oder er selbst gefährdet ist oder andere gefährden könnte. Wird ein Mensch über längere Zeit vermisst und werden weder Leichnam noch Lebenszeichen entdeckt, können die Angehörigen ihn nach zehn Jahren für tot erklären lassen.

In den meisten Fällen werden die Vermissten wieder gefunden und die Fälle aufgeklärt. Allerdings gibt es auch über zehn Fälle, in denen Ortenauer seit mehreren Jahren verschwunden sind und nicht klar ist, ob die Personen noch leben. (red)

Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

- Anzeige -
  • Auch das Handwerk zeigt bei der Berufsinfomesse (BIM), was es alles kann. Hier wird beispielsweise präsentiert, wie Pflaster fachmännisch verlegt wird. 
    13.04.2024
    432 Aussteller informieren bei der Berufsinfomesse Offenburg
    Die 23. Berufsinfomesse in der Messe Offenburg-Ortenau wird ein Event der Superlative. Am 19. und 20. April präsentieren 432 Aussteller Schulabsolventen und Fortbildungswilligen einen Querschnitt durch die Ortenauer Berufswelt. Rund 24.000 Besucher werden erwartet.
  • Der Frühling steht vor der Tür und die After-Work-Events starten auf dem Quartiersplatz des Offenburger Rée Carrés.
    12.04.2024
    Ab 8. Mai: Zum After Work ins Rée Carré Offenburg
    In gemütlicher Runde chillen, dazu etwas Leckeres essen und den Tag mit einem Drink ausklingen lassen? Das ist bei den After-Work-Events im Rée Carré in Offenburg möglich. Sie finden von Mai bis Oktober jeweils von 17 bis 21 Uhr auf dem Quartiersplatz statt.
  • Mit der Kraft der Sonne bringt das Unternehmen Richard Neumayer in Hausach den Stahl zum Glühen. Einige der Solarmodule befinden sich auf den Produktionshallen.
    09.04.2024
    Richard Neumayer GmbH als Klimaschutz-Pionier ausgezeichnet
    Das Hausacher Unternehmen Richard Neumayer GmbH wurde erneut für seine richtungsweisende Pionierarbeit für mehr Klimaschutz und Nachhaltigkeit ausgezeichnet. Die familiengeführte Stahlschmiede ist "Top Innovator 2024".
  • Sie ebnen den Mitarbeitern im Hausacher Unternehmen den Weg zur erfolgreichen Karriere (von links): Linda Siedler (Personal und Controlling), Patrick Müller (Teamleiter Personal), Arthur Mraniov (Pressenführer Schmiede) und Heiko Schnaitter (Leiter Schmiede und Materialzerkleinerung).
    09.04.2024
    Personal entwickelt sich mit ökologischer Transformation
    Als familiengeführtes Unternehmen baut die Richard Neumayer GmbH auf Transparenz, kurze Wege und Nähe zu den Mitarbeitern. Viele Produkthelfer und Quereinsteiger haben es auf diese Weise in verantwortungsvolle Positionen geschafft.