Herkunft bedeutet Schicksal
Im Alltag heißt das Gegenteil von sozialer Gerechtigkeit Ausgrenzung, sagt Ulrich Schneider, der Chef des Paritätischen Gesamtverbandes. In seinem Gastbeitrag für die Mittelbadische Presse prangert er die Ungerechtigkeiten in der deutschen Gesellschaft an. Er sagt: Wer diese als alternativlos hinnimmt, gibt sich politisch auf.
Eigentlich – diesen Standpunkt könnte man einnehmen – ist längst alles gesagt zum Thema sozialer Gerechtigkeit. Dass beispielsweise eine Altenpflegerin rund 200 Jahre arbeiten müsste, um das zu verdienen, was sich ein Vorstand eines mittleren Dax-Unternehmens in einem Jahr gönnt, ist ohne Zweifel ungerecht. Ungerecht ist auch, dass die gleiche Altenpflegerin selbst nach 40 Berufsjahren möglicherweise keine Rente in einer Höhe bekommen wird, die sie vor dem Gang zum Sozialamt bewahren würde, da sich das Rentenniveau im Gleitflug befindet.
Ungerecht ist es, wenn die kleine Rente unserer Altenpflegerin später voll auf die Altersgrundsicherung angerechnet wird, und sie feststellen muss, dass sie nun genauso wenig hat, als hätte sie nie gearbeitet. Unverschämt wird es, sollte dann auch noch irgendein Klugscheißer sie darauf hinweisen, dass sie ja hätte »riestern« können, staatlich gefördert, zu einer Zeit als sie aber ohnehin jeden Cent zweimal umdrehen musste und sich mühte, vielleicht noch etwas für ihre Kinder beiseite zu legen.
Wir alle wissen um die schreienden Ungerechtigkeiten, die der Altenpflegerin widerfahren. Es ist die gleiche Ungerechtigkeit, die uns das Einkommen von Arbeitnehmern mit bis zu 42 Prozent versteuern lässt, während Superreiche, die von ihren Kapitalerträgen, sprich: von der Arbeit anderer leben, mit 25 Prozent Abgeltungssteuer davonkommen. Und es ist die gleiche Ungerechtigkeit, die völlig unverdientes Einkommen durch Erbschaften schließlich so gut wie gar nicht mehr besteuert.
Das alles ist nicht neu
Es ist im Grunde nur die Kehrseite der Tatsache, dass in Deutschland nach wie vor Herkunft für die meisten zugleich Schicksal bedeutet – für Demokraten und Menschen ohne Standesdünkel ein unerträglicher Umstand. Im Alltag heißt das Gegenteil von sozialer Gerechtigkeit Ausgrenzung.
Das alles ist nicht neu. Genauso wenig wie das Versagen der neoliberalen Verheißungen, wonach es irgendwann allen gut gehen werde, wenn wir nur ein gerüttelt Maß an Ungleichheit zu akzeptieren lernten und unsere vermeintlichen »Leistungsträger«, Reiche und Superreiche nicht mit Umverteilungsdebatten quälten.
Kein Erkenntnisdefizit
Wir wissen mittlerweile: Die von Neoliberalen als quasi-natürlich und quasi-notwendig gepredigte Ungleichheit hat mittlerweile eine Dimension erreicht, die selbst bei naivsten Gemütern das Gefühl oder den Gedanken aufkommen lässt, dass dies beim besten Willen nichts mehr mit irgendeiner sozialen Gerechtigkeit zu tun haben kann. Stattdessen fliegt diese Gesellschaft geradezu auseinander.
Weder haben wir ein Erkenntnisdefizit, noch dürften sich irgendwelche ethischen Zweifel einstellen. Wir wissen um die Verteilungsungerechtigkeiten in diesem Land, die nicht Ergebnis irgendeiner anonymen Globalisierung, sondern Resultat politischer Entscheidungen ist, die fälschlicherweise als vermeintlich alternativlos durchgesetzt wurden.
Wer jedoch Ungerechtigkeit als alternativlos hinnimmt, gibt sich politisch auf. Wir haben selbstverständlich die Möglichkeit, das Ruder herumzureißen. Wir können selbstverständlich für mehr soziale Gerechtigkeit und weniger Ungleichheit in dieser Gesellschaft sorgen. Deutschland ist die viertstärkste Volkswirtschaft auf diesem Globus. Die Stichworte und Konzepte aus dem Wahljahr 2013 gelten auch im Wahljahr 2017 noch. Es geht um eine Erbschaftssteuer, die ihren Namen verdient, es geht um die Besteuerung sehr großer Vermögen und von Kapitaleinkünften und es geht um die stärkere Heranziehung sehr hoher Einkommen zur Finanzierung dieses Sozialstaates. Doch braucht es dazu eine klare Linie, Konsequenz und den Mumm, Wahrheiten auszusprechen und sich auch mal mit dem einen oder anderen Vorteilsnehmer dieser Ungerechtigkeit anzulegen.