Berlin

Kriege verhindern die Ausrottung von Polio

dpa
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01. Januar 2017
Ein Kind wird im syrischen Hama gegen Polio geimpft.

Ein Kind wird im syrischen Hama gegen Polio geimpft. ©dpa - Faour/UNICEF

Das Schreckgespenst der Vergangenheit hat in einem schmalen Reagenzglas gesteckt. Bei Minusgraden lagerten im Labor des Berliner Robert Koch-Instituts (RKI) bis zum Jahresende spezielle Erreger der Kinderlähmung.

Die Impf- und Wildviren vom Polio-Typ 2 aber wird es 2017 nicht mehr geben. Denn dieses Virus gilt weltweit als ausgerottet und deshalb ist es auch im RKI-Labor den Hitzetod gestorben. Für die beiden anderen Polio-Erreger aber gibt es noch keine Entwarnung. Im Gegenteil: Krisen und Kriege haben die Hoffnung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) platzen lassen, die Kinderlähmung im Jahr 2016 weltweit auszurotten, berichtet Sabine Diedrich, Leiterin des Nationalen Referenzzentrums für Poliomyelitis und Enteroviren am RKI.
«Kinderlähmung ist bitter. Schluckimpfung ist süß.» Die Slogans der Gesundheitskampagnen haben sich in das Gedächtnis der älteren Generationen eingebrannt. Bei den Epidemien 1953 und 1954 gab es in Deutschland Tausende Polio-Fälle mit fast 10.000 Toten. Am häufigsten traf es Kinder und Jugendliche. Wer überlebte, trug häufig Lähmungen an Armen oder Beinen davon. Bis heute ist Kinderlähmung nicht heilbar. Doch die Schluckimpfung auf einem Stück Würfelzucker habe innerhalb nur eines Jahres zu einem fast vollständigen Rückgang der Neuerkrankungen in Deutschland geführt, berichtet Diedrich.
«Die Polio-Bekämpfung ist seit den Massenimpfungen Ende der 1980er Jahre weltweit eine Erfolgsgeschichte», sagt auch Rudi Tarneden, Sprecher des Kinderhilfswerks Unicef. Rund 15 Millionen Kindern seien durch die Immunisierungen, die heute 15 Cent pro Dosis kosten, Lähmungen erspart geblieben. Und 700 000 Todesfälle durch Polio konnten verhindert worden, schätzt Unicef. Zusammen mit Partnerorganisationen erreiche das Hilfswerk heute mit der Schluckimpfung weltweit jedes dritte Kind.

Und doch bleibt der wunde Punkt: Anders als für die Pocken gibt es für diese große Geißel der Menschheit keine Entwarnung. Es gibt zwar nur vergleichsweise wenige Fälle - aber jeder ist ein herber Rückschlag.
In Deutschland liegt die Polio-Durchimpfungsrate heute bei 95 Prozent. «Das reicht gerade so, damit sind wir auf der relativ sicheren Seite», sagt RKI-Expertin Diedrich. «Je mehr wir an die 100 Prozent rankommen, desto besser wäre es.»
Denn das Bild kann sich rasch ändern. Auch Syrien habe Polio-Impfquoten von an die 90 Prozent gehabt, berichtet Diedrich. Innerhalb weniger Monate fiel die Quote in den Kriegswirren auf 60 Prozent. Das Ergebnis war ein Polioausbruch 2013/14. Die Hilfswerke haben das nicht hingenommen. «Mitten im Bürgerkrieg sind Millionen Kinder geimpft worden», berichtet Tarneden. «In allen Landesteilen außer den IS-Hochburgen.» Auch Menschen, die nun aus dem umkämpften Mossul im Irak fliehen, bekämen die Impfungen sofort angeboten.

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In Afghanistan und Pakistan ist es bisher noch nie gelungen, die einheimischen Polio-Fälle vollends zurückzudrängen. Sie waren 2015 die weltweit einzigen beiden Länder mit Polio-Ansteckungen. Auch 2016 gab es dort Infektionen. Das liegt nicht allein an schwer zugänglichen Regionen. Islamistische Führer politisieren den Gesundheitsschutz. Sie behaupteten zum Beispiel, die Impfung sei mit HIV infiziert oder mache unfruchtbar. In Nigeria verbot die islamistische Gruppierung Boko Haram Impfungen generell. Hier traten 2016 nach einem Jahr Pause wieder Fälle auf.
Für Unicef ist das Impfprogramm, bei dem schon Helfer angegriffen und getötet wurden, in diesen Ländern weit mehr als eine logistische Herausforderung. «Heute überzeugen wir in Afghanistan vorher die religiösen Führer einer Region», sagt Tarneden. «Später gehen einheimische Helfer von Haus zu Haus und der Muezzin ruft mit dem Megafon zum Termin.» Das sorge für Vertrauen. Helfer böten Eltern mit der Impfung oft auch einen Gesundheitscheck ihrer Kinder an. Das sei in armen Regionen ein willkommenes Angebot, ergänzt der Sprecher.
Europa gilt seit 2002 als frei von Kinderlähmung. Es gab zwar 2015 zwei gemeldete Fälle aus der Ukraine. Sie wurden jedoch nicht durch zirkulierende Viren ausgelöst sondern von einem Lebendimpfstoff. In Deutschland werden solche Polio-Impfstoffe nicht mehr verwendet.

Doch es gab Sorge, dass die Krankheit durch die steigende Zahl von Asylbewerbern aus Krisengebieten neu eingeschleppt wird. Laboruntersuchungen gaben bisher Entwarnung. «Bei einer bundesweiten Überprüfung wurden über 600 Stuhlproben syrischer Asylbewerber untersucht», berichtet Diedrich. «Innerhalb eines halben Jahres haben sich glücklicherweise keine Poliowildvirus-Ausscheidungen nachweisen lassen.» Das Risiko einer Einschleppung werde deshalb insgesamt niedrig eingeschätzt. In allen Bundesländern gehört das Impf-Angebot für Flüchtlinge zur Gesundheitsvorsorge.
Kinderlähmung ist tückischer als andere gefährliche Infektionen. «Bei Polio erkrankt nur ein Bruchteil der Infizierten, aber alle können das Virus weiterverbreiten. Deshalb kann es lange unentdeckt zirkulieren», sagt Diedrich. Erkranken Kinder in Entwicklungsländern, hätten sie es extrem schwer, ergänzt Unicef-Sprecher Tarneden. «Es gibt selten Orthopädie. Es fehlt an Krücken und Schienen. Und oft können Kinder nicht mehr zur Schule gehen, weil die Gebäude nicht behindertengerecht gebaut sind.»

Etwas anderes kann alle Polio-Opfer treffen. Allein in Deutschland liegt die Dunkelziffer von Menschen, die an den Spätfolgen einer durchgemachten Polio leiden, bei geschätzt 50 000 bis 60 000. Die meisten erkrankten als Kinder in den 50er Jahren. Dann lebten sie viele Jahrzehnte ohne große Probleme. «Mit der Muskelermüdung im Alter können die gleichen Symptome wie damals wieder auftreten», sagt Diedrich. «Bis hin zu neuen Lähmungserscheinungen.»

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