Beklemmend und antiquiert
Aus heutiger Sicht muss George Orwells düstere Dystopie „1984“ sicherlich neu gedacht werden. Peking schickt sich an, sein Riesenreich in einen digitalisierten Überwachungsstaat zu verwandeln. Moskau schreibt im Kriegszustand die Wirklichkeit um. In der westlichen Welt herrscht auf den ersten Blick grenzenlose Freiheit.
Aber das Konsumdenken wird rücksichtslos geschürt, der gläserne Mensch gerät immer mehr in die Fänge global agierender Konzerne, wird mit alternativen Wahrheiten und Manipulationen überflutet. In ihrer Orientierungslosigkeit, ihrer Entwurzelung, sehnen sich immer mehr Menschen nach straffen Zügeln und klaren Ansagen. Von der Rezeptur her war George Orwell deshalb sehr wohl auf der richtigen Spur. Macht basiert auf Kontrolle, das Individuum muss gleichgeschaltet, das eigenständige Denken unterbunden werden.
Die vom Münchner „a.gon-Theater“ unter der Regie von Johannes Pfeifer im Parktheater auf die Bühne gebrachte Bühnenfassung des Romans wirkt streckenweise antiquiert, „Big Brother“ ist ein sauertöpfischer, freudloser Geselle. Die graue Farbe des Bühnengeschehens unterstreicht aber die Brisanz der von Orwell ausgesprochenen Mahnung, die Handlung führt eindrücklich vor Augen, wie rücksichtslose Machtausübung den Menschen zerstört. Er wird ausgepresst, der hohle Körper neu befüllt, und zukünftig ein Dasein ohne Liebe und Freundschaft, ohne Lebenslust, Lachen, Neugier, Mut und Anstand führen.
Der von Peter Kremer gespielte Winston Smith lehnt sich gemeinsam mit Julia (Laura Antonella Rauch) gegen das System auf, er wird aber im Verlauf der knapp zweistündigen Aufführung erbarmungslos gebrochen. „Zwei und zwei ist nicht vier“, behauptet er voller Überzeugung. Es ist auch nicht drei oder fünf, wie ihm sein Gegenspieler O`Brien (Marcus Widmann) deutlich macht. Der Wert wird alleine durch die allmächtige Partei bestimmt.
Knapp 600 Zuschauer, darunter auch drei Schulklassen, erleben eine Inszenierung, die ganz bewusst auf die beklemmende Wucht karger Bilder setzt. Gerade einmal sechs Schauspieler, eine kaum möblierte Bühne und Videoeinspielungen in Schwarz-Weiß, projektiert auf eine graue Wand mit einem winzigen Televisor. Beklemmende Schlichtheit als Gegenentwurf zu den vollmundigen Parolen eines Systems, das Kriegserfolge und Produktionsrekorde feiert und nicht einmal davor zurückschreckt, die Sprache auf ein absolutes Minimum, das sogenannte „Neusprech“ zu reduzieren.
Das von George Orwell entworfene Bild einer negativen Utopie manifestiert sich auf der Bühne mit einer durch und durch destruktiven Aura, die das Publikum spürbar mitnimmt. Was das Stück nicht leisten kann, ist die Übersetzung in die heutige Zeit, eine Auseinandersetzung mit den sehr viel subtileren Formen des Machtmissbrauchs und der Unterdrückung in der schnelllebigen, bunt schillernden Realität des 21. Jahrhunderts.