Neu im Kino: „Sterben“ mit Lars Eidinger

Blut, Suff, Sex und Tod

Kathrin Horster
Lesezeit 5 Minuten
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24. April 2024
Lars Eidinger als Tom

Lars Eidinger als Tom ©Foto: Wild Bunch

In seinem dreistündigen Epos „Sterben“ erzählt Matthias Glasner vom existenziellen Hadern einer verkorksten Familie – auf erstaunlich kurzweilige und unterhaltsame Weise.

Es gibt ein Leben vor dem Tod, doch je länger es dauert, desto seltener ist es ein fröhlicher Tortensonntag. Toms Mutter Lissy (Corinna Harfouch) zum Beispiel ist um die siebzig und schon inkontinent. Während ihr demenzkranker Mann Gerd (Hans-Uwe Bauer) nackt und desorientiert durch die Nachbarschaft irrlichtert, kauert Lissy vom eigenen Stuhlgang besudelt im Flur ihrer Wohnung, und kämpft mit dem Telefon, um Hilfe zu rufen.

Lissys Sohn Tom (Lars Eidinger) jedoch kümmert sich lieber um seinen depressiven Komponistenfreund Bernard (Robert Gwisdek) und um sein Jugendorchester, das er pro bono dirigiert. Außerdem hat Toms Ex-Freundin Liv (Anna Bederke) gerade ein Baby zur Welt gebracht, will aber vom leiblichen Vater nichts wissen. Stattdessen steigert sich Tom in die Rolle des Versorgers hinein, unfair getriggert von Livs hormongesteuerter Anschmiegsamkeit.

Die Verhältnisse und Figuren sind furchtbar verkorkst

Toms Schwester Ellen (Lilith Stangenberg) ist den Eltern auch keine Stütze. Ellen hat sich schon lange nicht mehr zu Hause blicken lassen, versäuft und verpennt ihre Tage, zwischendurch arbeitet sie als Zahnarzthelferin in der Praxis von Sebastian (Ronald Zehrfeld), der eigentlich verheiratet ist, irgendwann aber mit Ellen abstürzt in eine Affäre im Dauerrausch.

Die Verhältnisse und Figuren sind furchtbar verkorkst in Matthias Glasners Mehr-Generationen-Drama „Sterben“. Und auch der knallhart schlichte Titel wirkt angsteinflößend in Kombination mit der wuchtigen Spielzeit von drei Stunden: Kann, will und sollte man wirklich Menschen stundenlang dabei zugucken, wie die sich in Agonie winden? Die Furcht ist unbegründet, und von den nüchternen Fakten sollte man sich nicht abschrecken lassen. „Sterben“ ist trotz des Titels, trotz expliziter Szenen voll Blut, Kot, Suff und Rausch, Mitleidssex und Tod ein überraschend kurzweiliges, unterhaltsames Epos über das pralle Leben geworden.

Lieber Saufen, als sich der Realität zu stellen

In drei großen Kapiteln taucht Matthias Glasner in die Geschichte der Familie Lunis ein, schildert multiperspektivisch, wie Lissy und Gerd den eigenen und die Kinder den Verfall ihrer Eltern erleben, springt dann zu Tom, der alle Hände voll damit zu tun hat, neben den Gefühlen für seine Ex-Freundin die Babybetreuung und die Ansprüche seines depressiven Freundes Bernard unter einen Hut zu bringen. Tom studiert dessen titelgebende sperrige Komposition ein und muss die Aufführung so lange wie möglich hinauszögern, weil Bernard nach der Vollendung des Werkes mit seiner eigenen droht. Der dritte Teil gehört Ellen, die das Leben an sich nicht erträgt und sich lieber in einen gnädigen Dämmerzustand säuft, als sich der Realität zu stellen.

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Glasners Figuren benehmen sich oft bescheuert, sind verzweifelt, egoistisch und chronisch verletzt. Nach und nach legt Glasner offen, warum Familie Lunis innerlich so kaputt ist; erhellt, warum die verhärmt-lieblose Anti-Mutter Lissy ihren Sohn Tom nie leiden konnte, warum Bernard mit dem Leben und seinem Werk hadert, warum Tom immer noch Liv hinterherhechelt, aber dennoch mit seiner Assistentin Ronja (Saskia Rosendahl) ins Bett geht, warum Ellen nicht in der Lage ist, nüchtern zu bleiben.

Typisch für die menschliche Existenz

Das Leben, erzählt Glasner treffend, ist ein ständiges Aushandeln und Ertragen von Kompromissen, ein stetiger Versuch, Enttäuschungen, Hoffnungen und Ängste wie einen dicken Tränenkloß herunterzuschlucken und weiterzumachen. Dass das oft auch komisch ist, liegt an Glasners schrägem Sinn für Humor, etwa, wenn sich die besoffene Ellen und der restalkoholisierte Sebastian mitten in der Behandlung über den Kiefer eines Patienten hinweg in die Haare kriegen oder wenn Ellen ihren Ekel über den Bruder mitten im Konzert in der Elb-Philharmonie aus sich herauskotzt.

Obwohl Tom in gewissen Situationen blind ist für die Traurigkeit der anderen und vor allem sein eigenes Leid sieht, wird er im Schlüsselmoment des Films zum Ermöglicher einer selbst gewählten Erlösung. Dass er Ellen kein Bruder und der Mutter kein Sohn sein kann, steht auf einem anderen Blatt.

Auch wenn die Geschichte der Familie Lunis individuell erscheint und auf persönlichen Erfahrungen Matthias Glasners beruht, sind die Konflikte, Probleme und Erfahrungen allgemein übertragbar und typisch für die menschliche Existenz. Deshalb bleiben diese traurigen, manchmal nervtötenden Egozentriker auch nachvollziehbar und liebenswert in ihrem Chaos. Sterben muss jeder für sich alleine, leben geht nur mit anderen, ob man will oder nicht, erzählt Glasner.

Sterben. Deutschland 2024. Regie: Matthias Glasner. Mit Corinna Harfouch, Lars Eidinger, Hans-Uwe Bauer, Lilith Stangenberg, Ronald Zehrfeld, Anna Bederke. 182 Minuten. Ab 16 Jahren.

Info

Preis
 Bei der Berlinale 2024 wurde „Sterben“ mit dem silbernen Bären für das beste Drehbuch ausgezeichnet.

Person
Matthias Glasner wurde 1965 in Hamburg geboren. Er beschäftigt sich wiederkehrend mit existenziellen Themen. „Sexy Sadie“ (1996) erzählt von einem Serienmörder mit tödlichem Hirntumor, in „Der freie Wille“ (2006) thematisierte Matthias Glasner den Alltag eines Vergewaltigers nach dessen Haftentlassung und dessen Versuche, Beziehungen zu Frauen einzugehen. In „Gnade“ (2012) setzte er sich mit Schuld und Vergebung auseinander. Glasner hat auch schon einzelne Folgen für den „Tatort“, den „Polizeiruf 110“ oder auch „Das Boot“ inszeniert.

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