Der ideale Zuschauer
Stuttgart - Es gibt Menschen, deren Neugier so unstillbar ist, dass sie sich abseits aller Moden ihre eigenen Wege suchen. Unverhofft tauchen sie dann in kleinen Theatern auf, in abgelegenen Nachmittagsvorstellungen und bei Abschlussprüfungen in der Schauspielschule, dabei im Auftreten immer leise, still, freundlich, bescheiden: Der 1939 in Mühlacker geborene, in Stuttgart lebende Manfred Wursthorn gehörte zu dieser Sorte von Theaterliebhabern – und weil der an einer Realschule unterrichtende Lehrer der Bühne früh verfallen war, häufte sich sein Wissen zu einer Enzyklopädie des Stuttgarter Nachkriegstheaters an. Man konnte fragen, was man wollte: Er hatte die Antwort.
Die Intendanten des Staatsschauspiels kannte er persönlich, von Palitzsch über Peymann und Schirmer bis hin zu Kosminski, er verpasste wirklich, aber auch wirklich keine Inszenierung und trumpfte doch nie mit seiner Seh-Erfahrung auf. Immer ansprechbar, nie missionierend gab er Tipps, er war der ideale Zuschauer, der andere mitreißen konnte: Mit seinen Schülern, erzählte er einst bei einem Kaffee, besuchte er 1974 Wedekinds „Frühlings Erwachen“, die erste Skandal-Inszenierung unter Peymann, in der unverblümt über Sexualität geredet wurde – ein Erwachen auch der jungen Zuschauer. Er, den wegen der Wurst im Nachnamen alle nur liebevoll „Knacke“ nannten, war aber auch ein bestens vernetzter, idealer Anpacker. Seit 1992 im Vorstand des Theaterhauses, wirkte der Alt-Achtundsechziger mit der Hippie-Mähne als ausgleichender Vermittler, wenn sich das Team in den Haaren lag.
Noch letzte Woche feierte er den Geburtstag von Werner Schretzmeier, doch schon am Tag danach musste er die Trauerfeier für Wolfgang Dauner absagen. Er fühlte sich unwohl. Am vergangenen Freitag ist Manfred „Knacke“ Wursthorn, eine Seele von Mensch, mit 80 Jahren gestorben.