Die große Zäsur im Leben der Kultfigur Hermann Hesse
Schon als junger Mann hat sich Hermann Hesse in das kleine Örtchen Sils Maria im Schweizer Engadin verliebt. Im Hotel »Waldhaus«, wo der Dichter einst viele Sommer verbrachte, wurden im Juni zum 20. Mal die Hermann-Hesse-Tage begangen.
Auf 1800 Meter Höhe, umgeben von einem lichten Wald, weichen sonnenumflutenden Spazierwegen und feiner, glasklarer Luft liegt das »Waldhaus«. Der Blick aus dem Fenstern des Schweizer Grand-Hotels fällt auf das kleine Örtchen Sils Maria. Das weite Fextal mündet in einen See. In ihm, dem Silser See, spiegeln sich die hohen Berge der Bernina, die Gebirgsgruppe in den zentralen Ostalpen. Dreitausender, die Ehrfurcht verbreiten. Sind sie für die grandiose Stille verantwortlich, die viele Künstler anzog, die Erholung und Inspiration suchten?
Es war im Jahr 1905, als sich der Dichter Hermann Hesse (1877-1962) in diesen Teil des Schweizer Engadin verliebte: »Gesehen habe ich viele Landschaften und gefallen haben mir beinahe alle. Die wohl schönste, am stärksten auf mich wirkende von diesen Landschaften ist das obere Engadin.«
Insgesamt sollte er 395 Tage hier verbringen. Vor allem in den Sommermonaten zog es ihn und seine Frau Ninon aus dem heißen Tessin in die Kühle der Berge. Neben der so wichtigen Erholung des tiefgründigen Denkers und neben seiner Seelenheilung war es das Zusammentreffen, der Austausch mit anderen Autoren, Dichtern, Denkern und Musikern, die Hermann Hesse sehr genoss. Er traf Rainer Maria Rilke, Thomas Mann und Alberto Moravia, Carl Gustav Jung, Erich Kästner und Friedrich Dürrenmatt, Kurt Tucholsky und Max Frisch und viele mehr. Das Haus, indem Nietsche bei seinen Besuchen wohnte, ist heute ein Museum.
Im Stil der Belle Epoche
In diesem Jahr feiert das »Waldhaus« seinen 111. Geburtstag. Noch immer wohnen die Gäste im Stil der Belle Epoche, trinken den Nachmittagstee bei gediegener Musik und werden von der Hotelleitung mit Handschlag begrüßt. In der fünften Generation wird das Haus von Familie Dietrich und Kienberger so weitergeführt, wie es Josef Giger und Amalie Giger-Nigg 1908 erschufen. »Wir sind restlos begeistert und schlürfen die Luft der Gemsen wie französischen Champagner«, lobte Komponist Richard Strauss 1947.
Und noch immer wird Kultur hier groß geschrieben. So fanden im Juni bereits die 20. Hermann Hesse-Tage mit einem Programm unter dem Motto »1919 – Hermann Hesses Aufbruch in die Zukunft« statt. Im Mittelpunkt der viertägigen Tagung stand die große Zäsur im Schaffen des Dichters, die während des Ersten Weltkriegs eingesetzt und sich auf alle seine nach 1919 erschienenen Werke ausgewirkt hat.
Es war die Zeit, als Hesse im Tessin neu begann. Er war nahezu mittellos, die Frau in psychiatrischer Betreuung, die Söhne Heiner, Bruno und Martin bei Verwandten untergebracht. »Demian« und »Klingsors letzter Sommer«, »Siddharta« und schließlich der »Steppenwolf« entstanden in Montagnola. Hesse wurde ein Streiter gegen den Dünkel des Nationalsozialismus, ein weltoffener Kosmopolit.
Bei der Tagung referierte der Schweizer Alain Claude Sulzer über die Aktualität von Hesses Zeitkritik. Volker Michels, der Herausgeber der ersten Hesse-Gesamtausgaben und jahrzehntelanger Betreuer seiner Werke, nahm sich des »Demian« an: »Wie kam es, dass so ein stilles Buch so laut gewirkt hat?« Ein spannender Vortrag, der Hesses inneren Aufruhr, seine Zerrissenheit, seine Angst und seinen Mut aufzeigte.
Kritsche Stimmen
Auch kritische Stimmen wurden laut. »Warum wird im Leben dieses Dichters so tief gegraben«, wurde nicht nur einmal gefragt. Doch Hermann Hesse hat das geschrieben, was er er- und gelebt hat. Das macht ihn authentisch, das macht ihn für manchen zur Kultfigur, zum Leitvater. Doch das, so weiß man, wollte Hesse nie sein. Wenn, dann wollte er annimieren, selbst zu denken, sein Leben in die Hand zu nehmen. »Eigensinn macht Spaß«, fand er.
Daraus machten Graziella Rossi und Helmut Vogel eine wunderbare szenische Lesung. Die junge Hesse-Forscherin Sabrina Vogel beschäftigte sich mit den Märchen von Hermann Hesse. Michael Limberg widmete sich Hesses Vater, während Sohn Heiner Hesse in dem wunderbaren Film von Elisabeth Brunner »Die Hölle ist überwindbar« sehr private Einblicke in die Familie gewährte. Jürg Aklin, Schweizer Schriftsteller und Psychoanalytiker, nahm sich des Werkes Klein und Wagner an. Nicht weniger interessant waren die Ausführungen des Theologen und Präsidenten der Internationalen Hermann Hesse-Gesellschaft, Karl-Josef Kuschel, zu »Klingssors letzter Sommer«.
Der bekannte Schweizer Autor Adolf Muschg zog die Essenz aus den 20. Silser Hesse-Tagen. Vielen ist der Literaturnobelpreisträger Hermann Hesse hier noch einmal ganz neu begegnet, sehr persönlich, auch kritisch. Den meisten aber ist – so wie dem teilnehmenden Enkel Silver Hesse – längst Vertrautes wiederbegegnet.
Hesse ist ein Autor, der noch immer aktuell ist. Warum? Weil er gelebt hat, bis in die Tiefe seiner Seele hinein und Worte fand, die andere suchen. Einfach war es nicht, doch wer sagt, dass Leben einfach ist. Dazu Hesse: »Ich wollte ja nur das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so sehr schwer?«