Matera

«Ein Rohdiamant»: Italiens Kulturhauptstadt Matera

dpa
Lesezeit 5 Minuten
Jetzt Artikel teilen:
16. Januar 2019
Verwinkelte Gassen in der Kulturhauptstadt Matera.

Verwinkelte Gassen in der Kulturhauptstadt Matera. ©dpa - Lena Klimkeit

Nach Matera zu kommen war zuletzt noch schwieriger als ohnehin schon. Verwunschener denn je wirkte die Felsenstadt in Italiens Süden, als kurz nach dem Jahreswechsel seltenes Schneegestöber über sie hereinbrach. Nun, da Schnee und Eis geschmolzen sind, richtet sich der Blick wieder auf etwas anderes: Matera ist in diesem Jahr Europäische Kulturhauptstadt.

Am 19. Januar fällt der offizielle Startschuss, eine Woche nach den Eröffnungsfeierlichkeiten in der zweiten europäischen Kulturhauptstadt des Jahres, dem bulgarischen Plowdiw.

«Zuerst erschien uns das als etwas viel zu Großes für Matera», sagt Mario Daddiego. «Aber jetzt wird die Welt verstehen, dass Matera existiert. Die Stadt ist ein Rohdiamant.» Der 46-Jährige steht in seinem Laden, der gleichzeitig Werkstatt ist. Er ist wie so viele andere Geschäfte, Restaurants und Unterkünfte in dem Ort in den Fels gehauen worden. Matera ist berühmt für seine «Sassi». Die antiken Höhlensiedlungen baut Daddiego für seine Weihnachtskrippen nach.

Die Felsen entlang der Schlucht inmitten zerklüfteter Landschaft sind durchzogen von Höhlen, die Menschen schon vor Tausenden Jahren bewohnten. In den Vierteln Sasso Caveoso und Sasso Barisano lebten bis in die 50er Jahre Menschen unter hygienisch desaströsen Zuständen. Teilweise Seite an Seite mit ihren Tieren. 1952 erließ die Regierung in Rom ein Gesetz, das die Zwangsräumung der in Stein gehauenen Behausungen veranlasste. Matera galt als «vergogna nazionale», als nationale Schande. Rund 17 000 Menschen wurden umgesiedelt. Die Sassi drohten zu verfallen. Bis 1986 ihre Erhaltung und Sanierung angeordnet und sie 1993 Unesco-Weltkulturerbe wurden.

Was gestern Schande war, ist heute Stolz. Und mittlerweile zieht die Stadt mit ihrer Jahrtausende alten Geschichte und den unzähligen Gewölben immer mehr Besucher an. Im Jahr der Kulturhauptstadt werde mit 800 000 Übernachtungen gerechnet, sagt der Sprecher für Matera 2019, Serafino Paternoster. Fast eine Verdoppelung im Vergleich zu 2017: Da waren es noch rund 480 000, 2010 gerade mal 200 000. Vielleicht wird es schon bald ein Segen sein, dass der nächste Flughafen mehr als 60 Kilometer entfernt ist und sich so schnell niemand nach Matera verläuft, der nicht wirklich dort hin will.

«Es gibt diejenigen, die sagen: Nach 2019 kommt niemand mehr. Und es gibt die, die sagen: Es kommen schon jetzt zu viele», sagt Paolo Verri, Leiter der Stiftung Matera 2019. «Ich glaube, die Wahrheit liegt in der Mitte. Wir sind nicht Venedig und hoffen auch nicht, es zu werden. Aber wir müssen auch ehrlich sein. Wenn der Tourismus keine Beschäftigung geschaffen hätte, wäre die Situation heute anders. Der Tourismus schafft neue Möglichkeiten. Und bringt frisches Geld.»

- Anzeige -

Die kleinen, winkelreichen Gassen sind malerisch. Sie ziehen sich die vielen Hügel rauf und runter. Die Häuser sind mit dem Stein verschmolzen. Über ihren Dächern ragt auf einem wuchtigen Felsen ein Kreuz. Hollywood hat längst entdeckt, dass Matera eine perfekte Kulisse ist. Mel Gibson trug als Jesus in der «Passion Christi» das Kreuz durch die Straßen. Hier kann man sich verlieren. Googlemaps hilft nicht immer weiter, aber das ist auch nicht nötig, um auf urige Cafés, Restaurants und Weinbars zu stoßen.

Das Kulturhauptstadt-Jahr gebe Italien die Möglichkeit, «mehr von unserer Kultur und vor allem die weniger bekannten Aspekte unserer Kultur zu zeigen», sagte Kulturminister Alberto Bonisoli. Öffnung und Austausch zwischen den «Materani» und den Besuchern wird groß geschrieben. Die Eintrittskarte für die zahlreichen Events ist gleichzeitig Ausweis, der die Touristen zu «temporären Bürgern» macht. Die Besucher sollen Matera auch außerhalb der Sassi entdecken, zu Botschaftern der Stadt werden und wiederkommen. 

Projekte lokaler, nationaler und europäischer Teilnehmer drehen sich um Kontinuität und Bruch, Wurzeln und Wege. Die Themen des recht abstrakten Programms sind alle eng mit der DNA Materas verknüpft und können auf ganz Europa übertragen werden. Es geht um Abwanderung und Vernachlässigung ländlicher Regionen oder reale Beziehungen in einer immer digitaler werdenden Welt. Den Auftakt machen Musiker aus der Umgebung und aus Kulturhauptstädten der Vergangenheit und der Zukunft, die durch die Straßen der Stadt marschieren sollen. Das Hauptevent findet am Samstagabend im Beisein von Staatspräsident Sergio Mattarella statt.

Doch es gibt auch Zweifel, ob den Einwohnern wirklich so viel Bedeutung zukommt, wie die Initiatoren glauben machen. «Der Materano von heute ist nicht im Programm», sagt Nadia Della Chiara, die in ihrem Geschäft Handgemachtes aus der Region wie Textildrucke oder Vasen verkauft. Lange Zeit sei die Stadt verschlossen gewesen. Ein Event für Matera würde ein Außenstehender nicht verstehen - und umgekehrt. «Es werden zwei Welten bleiben», meint Della Chiara.

In die Rolle der größten Kritikerin der Organisation vor Ort schlüpfte bisweilen die italienische Ministerin für den Süden, Barbara Lezzi. Sie bemängelte Verzögerungen bei Bauarbeiten und nahm sich der Beschwerden einiger lokaler Reiseveranstalter an, die sich von der Planung ausgeschlossen gefühlt hatten. Zuletzt stattete sie der Stadt Überraschungsbesuche ab, um zu schauen, ob alles rechtzeitig fertig wird. Die Tageszeitung «La Stampa» kommentierte, angesichts nicht fertig gestellter Parkplätze, der ausgebauten Bahnstrecke, auf der aber noch immer keine Fernzüge fahren, wirke Matera derzeit noch wie ein weit entferntes, wenn nicht isoliertes Wunderland.

Weitere Artikel aus der Kategorie: Kultur

José F. A. Oliver
27.03.2024
Kulturkolumne
Einst las ich den Satz, die Zeit sei eine blinde Führerin. Übersetzt hieß das für mich nichts anderes, als dass wir diejenigen sein sollten, die diese an die Hand nehmen müssten. In einer Welt, die groß ist und klein zugleich: Die Welt ist groß. Die Welt ist klein ...
Berühmten Kollegen setzte Anna Haifisch ein Denkmal. So zeigt sie in einer Zeichnung den Karikaturisten Saul Steinberg (1914–1999) beim Kampf gegen eine Schaffenskrise.
26.03.2024
Ausstellung in Straßburg
Noch bis zum 7. April sind im Straßburger Musée Tomi Ungerer Werke der deutschen Zeichnerin Anna Haifisch zu sehen. Sie stellt Menschen gerne oft als Tiere dar und karikiert Kollegen.
Gäste im "Grand Hotel Grimm" mit unlauteren Absichten: ein Zwerg mit langem Bart, ein unscheinbarer Handlungsreisender und eine elegante junge Dame mit dem Namen Rotkäppchen.
26.03.2024
Puppenparade Ortenau
Die „Berliner Stadtmusikanten“ des Theaters Zitadelle sind in die Jahre gekommen. Mit „Grand Hotel Grimm“ boten sie bei der Puppenparade in Lahr dennoch eine erfrischende Vorstellung.
Im Mittelpunkt der Tragödie: die Schwestern Chrysothemis (Elza van den Heever, links) und Elektra ­(Nina Stemme).
26.03.2024
Festspielhaus Baden-Baden
Das archaische Thema der Oper „Elektra“ ließ das Publikum bei der Eröffnung der Osterfestspiele Baden-Baden frösteln. Umjubelt wurden Sängerin Nina Stemme und Dirigent Kirill Petrenko.
Dietrich Mack. 
26.03.2024
Kulturkolumne
„Hoffnungsglück“ hat Goethe die Aufbruchstimmung genannt, die der Frühling verbreitet..Dieses Gefühl genießt auch der Kolumnist, der verrät, warum für ihn Bach nicht nur der fünfte, sondern auch der beste Evangelist ist.
Sechshändig am Klavier: die Schwestern Alisa und Lia Benner aus Lahr und Ennco Sinner aus Kippenheim.
19.03.2024
"Jugend musiziert"
Eine Auswahl der Besten beim Landeswettbewerb in Offenburg stellte sich in der Offenburger Reithalle vor, oft begleitet von Vater, Mutter oder Geschwistern.
Harte Szene im Gemüsekrimi: Dietmar Bertram hobelt eine Gurke, um sie zum Reden zu bringen.
17.03.2024
Lahr
Ein Detektiv spielt mit Essen: Dietmar Bertram präsentierte „Hollyfood – Die Gemüsekrimis“ bei der Puppenparade Ortenau im Lahrer Schlachthof.
Am Abgrund: In "A long way down" wird über ein ernstes Thema gealbert. 
17.03.2024
Offenburg
Mit britischem Humor thematisiert die Tragikomödie „A long way down“ die Selbstmordgedanken gescheiterter Existenzen. Für die Aufführung in der Oberrheinhalle gab es viel Beifall.
Von Gier befeuert: Carsten Klemm (rechts) als Kunstfälscher Fritz Knobel und Luc Feit (links) als Skandalreporter Hermann Willié. 
17.03.2024
Lahr
Den Skandal um die angeblichen Hitlertagebücher des Kunstfälschers Kujau brachte die Landesbühne Esslingen mit „Schtonck“ auf die Bühne.
Arbeiten aus mehr als drei Jahrzehnten zeigt Karl Vollmer im Artforum.
17.03.2024
Offenburg
Karl Vollmer reflektiert das Zeitgeschehen und bezieht Position. Zwei Werke seiner Ausstellung „Wider Erwarten – Ortung“ beim Kunstverein Ortenau hat er Alexej Nawalny gewidmet.
Das Trio Van Beethoven erhielt frenetischen Schlussbeifall.
13.03.2024
Achern
Das Trio Van Beethoven eroberte am Sonntag mit Werken von drei weitgehend unbekannten Komponisten das Publikum in der Alten Kirche Fautenbach.
Mit ein bisschen Absurdität und jeder Menge Witz ließ das Theater Handgemenge seinen König auf Reisen gehen.
13.03.2024
Kehl
Das Schattenspiel um Herrn König bescherte dem Kehler Publikum einen großartigen Puppenparade-Abend

Das könnte Sie auch interessieren

- Anzeige -
  • HYDRO liefert etwa Dreibockheber für die Flugzeugwartung. 
    26.03.2024
    HYDRO Systems KG und Rhinestahl fustionieren
    HYDRO Systems KG und Rhinestahl schließen sich zusammen. Mit diesem Schritt befinden sich die Kompetenzen in den Bereichen Ground Support Equipment (GSE) und Aircraft- & Engine Tooling unter einem Dach.
  • Alle Beauty-Dienstleistungen bietet die Kosmetik Lounge in Offenburg unter einem Dach.
    26.03.2024
    Kosmetik Lounge Offenburg: Da steckt alles unter einem Dach
    Mit einer pfiffigen Geschäftsidee lässt Elena Plett in Offenburg aufhorchen. Die staatlich geprüfte Kosmetikerin denkt "outside the box" und hat in ihrer Kosmetik Lounge ein außergewöhnliches Geschäftsmodell gestartet.
  • Konfetti, Flitter und Feuerwerk beschließen die große Preisverleihung im Forum-Kino in Offenburg. Die SHORTS feiern 2024 ihr 25. Jubiläum. 
    26.03.2024
    25 Jahre SHORTS – 25 Jahre Bühne für künftige Filmemacher
    Vom kleinen Screening in 25 Jahren zum gewachsenen Filmfestival: Die SHORTS der Hochschule Offenburg feiern Jubiläum. Von 9. bis 12. April dreht sich im Forum-Kino Offenburg alles um die Werke junger Filmemacher. Am 13. April wird das Jubiläum im "Kesselhaus" gefeiert.
  • Das LIBERTY-Team startet am Mittwoch, 27. März, in die Afterwork-Party-Saison. 2024 finden die Veranstaltungen in Kooperation mit reiff medien statt. 
    22.03.2024
    Businessaustausch jetzt in Kooperation mit reiff medien
    Das Offenburger LIBERTY startet mit Power in die Eventsaison: Am Mittwoch, 27. März, steigt die erste XXL-Afterwork-Party mit einem neuen Kooperationspartner. Das LIBERTY lädt zusammen mit reiff medien zum zwanglosen Feierabend-Businessaustausch ein.