Kinokritik zum Oscar-Favoriten „1917“

In den Gräben der Hölle

Martin Schwickert
Lesezeit 4 Minuten
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15. Januar 2020
Die Korporale Blake (Dean-Charles Chapman, li.) und Schofield (George MacKay) riskieren Schritt um Schritt ihr Leben.

Die Korporale Blake (Dean-Charles Chapman, li.) und Schofield (George MacKay) riskieren Schritt um Schritt ihr Leben. ©Foto: Universal Pictures/François Duhamel

Kriegsfilme gibt es viele. Aber „1917“ von Sam Mendes ist besonders. Und das nicht nur, weil er ganz ohne Schnitte auskommt.

Stuttgart - Es ist April und der nahende Frühling ist schon zu spüren. Fast idyllisch wirkt das Bild der Soldaten, die sich unter einem Baum auf einer Wiese hinter der Front ausruhen und die ersten wärmenden Sonnenstrahlen genießen. Dann kommt der Befehl: Blake (Dean-Charles Chapman) soll sich einen Kameraden aussuchen und ins Hauptquartier kommen. Nur ein kurzes Nicken und Schofield (George MacKay) erhebt sich aus dem Gras, um dem Freund zu folgen. Genauso wie die Kamera, die diese beiden die nächsten zwei Kinostunden nicht mehr aus den Augen lassen wird.

Sie heftet sich an die Soldaten, geht müden Schrittes mit ihnen über die Wiese und gibt schließlich die Sicht frei auf ein riesiges Labyrinth aus Schützengräben, in das die Uniformierten eintauchen. Es ist das Jahr 1917 an der Westfront des Ersten Weltkrieges, wo deutsche, britische, französische und andere alliierte Soldaten zu Abertausenden ihr Leben lassen im Kampf um ein paar Quadratkilometer verwüstetes Land.

Segen aus dem Flachmann

Die britische Armee bereitet gerade einen Angriff vor, als die Nachricht der Luftaufklärung eintrifft, dass die Deutschen sich aus den Gräben zurückgezogen haben, um die Gegner an anderer Stelle in eine Falle laufen zu lassen. Ein Bataillon von 1600 britischen Soldaten, darunter auch Blakes Bruder, wird in den tödlichen Hinterhalt geraten, wenn die beiden Soldaten den Befehl zum Rückzug nicht rechtzeitig überbringen.

Blake und Schofield machen sich auf den Weg durch die Gräben, vorbei an verwundeten und übermüdeten Soldaten. Ein Offizier segnet sie müde mit ein paar Tropfen Schnaps aus dem Flachmann. Und dann steigen sie schließlich die Leiter hinauf ins Niemandsland. Hinter dem letzten Graben eröffnet sich ein apokalyptisches Höllengemälde, wie es Hieronymus Bosch nicht eindringlicher hätte erschaffen können.

Kamerad Kamera

Abgebrannte Bäume, halbverweste Pferdekadaver, riesige Schlammlöcher, in denen die Leichen übereinander liegen und vom Morast kaum zu unterscheiden sind. Noch gespenstischer wirken die verlassenen gegnerischen Stellungen, die zu unterirdischen Festungen ausgebaut und mit Sprengfallen versehen wurden. Und das ist erst der Beginn einer zweistündigen Reise in die verwüsteten Landschaften des Krieges, durch die sich die beiden Boten in größter Gefahr hindurch kämpfen müssen.

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Mit „1917“ definiert Sam Mendes das Genre des Kriegsfilmes neu, weil er das Geschehen nicht nur narrativ, sondern auch visuell ganz und gar aus der Ich-Perspektive der Soldaten erzählt. Was Steven Spielberg in seiner legendären Eröffnungssequenz von „Der Soldat James Ryan“ vorgeführt hat, wird hier zum allumfassenden Erzählprinzip. Die Kamera verlässt die beiden Protagonisten nie, wird zum dritten Gefährten, geht mal ein paar Schritte voraus, fällt dann wieder zurück, duckt sich, wenn ein abstürzendes Flugzeug über die Köpfe der Soldaten hinweg rast, springt mit dem flüchtenden Schofield sogar durch ein Kellerfenster, um sich in Sicherheit zu bringen – und das alles ohne einen sichtbaren Schnitt.

Keine Alibibotschaften

Mendes und sein Kameramann Roger Deakins haben die ganzen zwei Kinostunden in einer einzigen Plansequenz konzipiert und schaffen es mit einigen digitalen Hilfestellungen, die gefährliche Reise der Soldaten ohne Unterbrechungen in einer Einstellung zu erzählen.

Das ambitionierte, visuelle Konzept ist weit mehr als eine cineastische Spielerei und führt zu einer eindringlichen, gefühlten Nähe zu den Figuren, wie man sie im Kino nur selten erlebt. Da kann auf pazifistische Alibibotschaften getrost verzichtet werden. Das brillant inszenierte, subjektive Erleben des Krieges aus der Soldatenperspektive reicht hier als politisches Statement vollkommen aus.

Ergreifendes Seherlebnis

Denn Mendes, dessen Großvater mit seinen abenteuerlichen Geschichten aus dem Ersten Weltkrieg den Anstoß zu diesem Film gab, erzählt trotz seines Rettungsszenarios keine Heldengeschichten, sondern von primären Angsterfahrungen, mit denen die Soldaten dem Weg durch das Niemandsland konfrontiert werden.

Mit George MacKay hat er einen wunderbaren Hauptdarsteller gefunden, der mit großer emotionaler Glaubwürdigkeit und ohne Overacting durch die Hölle des Krieges geht und während der zwei Kinostunden um Jahre zu altern scheint. Schon jetzt kann „1917“ als echter Meilenstein der Filmgeschichte gelten, weil er ein klares, fokussiertes Konzept mit großer handwerklicher Präzision zu einem ergreifenden Seherlebnis ausbaut. Als bestes Drama bereits mit dem Golden Globe ausgezeichnet, gehört der Film auch zu den wichtigsten Favoriten der diesjährigen Oscar-Rallye. Er ist gleich in zehn Kategorien nominiert.

1917. Großbritannien, USA 2019. Regie: Sam Mendes Mit Dean-Charles Chapman, George MacKay, Colin Firth, Benedict Cumberbatch. 119 Minuten. Ab 12 Jahren.

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