Jason sucht einen Lieblingsfußballverein
Jason ist 10 Jahre alt und Autist. Sein Alltag besteht aus starren Routinen und festen Regeln. Wehe, es wird nur ein Jota davon abgewichen. Was anderen Menschen völlig unwichtig erscheint, bringt ihn komplett aus der Fassung. Der kleine Prinzipienreiter eckt ständig an, er beschimpft die Religionslehrerin als Verschwörungstheoretikerin oder brüllt eine alte Dame an, weil sie es wagt, auf „seinem“ Platz an der Bushaltestelle zu sitzen. Auch wenn er mal nicht wütend ist, verhält er sich anders als gleichaltrige Kinder.
Warum lag da kein Verein in der Wiege?
Auf die scheinbar einfache Frage seiner Mitschüler, was für ein Fan er sei – „Bayern oder Dortmund?“ – antwortet er: „Ich bin Albert-Einstein-Fan.“ Diese mit großer Ernsthaftigkeit vorgebrachte Erklärung sorgt für schallendes Gelächter. Der Junge aber will sich nicht mehr auslachen lassen. Also beschließt er: ein Lieblingsclub muss her.
Jason wohnt in Haan in Nordrhein-Westfalen. Da ist man BVB-Fan, so wie Mama und Opa, oder man hält zu Fortuna Düsseldorf, so wie „Papsi“. Naheliegend wäre auch der Wuppertaler SV, zum Stadion am Zoo könnte er fast zu Fuß gehen. Doch Nachahmung liegt dem talentierten Hobby-Physiker nicht. Er geht die Sache mit wissenschaftlicher Akribie an. Versuch und Irrtum: Er will sich vor Ort und live informieren. Und zwar bei allen 56 Vereinen der ersten drei Ligen.
Papa Mirco würde sich freuen, wenn Jason so wie er Fan von Fortuna Düsseldorf würde.
Foto: Leonine
Das Casting „Jason sucht den Super-Club“ ist eine absurde Idee. Denn Fußballfans können oft nicht erklären, wie es zu ihrer Leidenschaft kam. Warum drückt jemand auf der Nordseeinsel Borkum dem VfB Stuttgart die Daumen? Wieso sind gebürtige Berliner Anhänger von Bayer Leverkusen? Antwort: Weil es eben so ist. Einer zutiefst emotionalen Angelegenheit wie Fußball kann man nicht mit Rationalität begegnen. Jason versucht es trotzdem. Mirco schließt einen Pakt mit seinem Sohn: Der Junior verspricht, nicht mehr auszurasten. Dafür begleitet ihn der Vater bei der Recherchereise. Ab sofort tingeln Vater und Sohn jedes Wochenende durch die Republik und nennen sich „Wochenendrebellen“.
Stadionbesuch als Konfrontationstherapie
Ein Besuch im Stadion ist für Jason die reinste Konfrontationstherapie. Er muss sich Situationen aussetzen, die er sonst nicht erträgt. Eingangskontrollen, bei denen man abgetastet wird. Viele Menschen auf engem Raum, Lärm, Geschrei und Bierduschen. Doch der autistische Junge lässt sich von dieser geheimnisvollen Faszination anstecken. Beeindruckt beobachtet er die wehenden Fahnen am Spielfeldrand, freut sich über die Choreografien auf den Rängen, die enthusiastischen Gesänge, die Leidenschaft, den unbeschreiblichen Jubel, wenn der Ball im Tor landet. Die wundersame Welt des Fußballs verbindet nicht nur Menschen jeden Alters und aus allen Gesellschaftsschichten. Die Ballsportart hat offenbar auch heilsame Kräfte. Jason lernt, gelassener zu werden.
In der Rolle der trotz Erschöpfung stets zuversichtlichen Mutter geht Aylin Tezel („Am Himmel der Tag“) völlig auf. Man nimmt ihr hundertprozentig ab, dass hier jemand nur das Beste für den Sohn will. Florian David Fitz („Oskars Kleid“) spielt mal wieder, was er am besten kann: Den Papa vom Dienst mit Strubbelfrisur, Dreitagebart und lässigem Parka. In weiteren Rollen sind Joachim Król, Leslie Malton und Milena Dreißig zu sehen. Eine Entdeckung ist der Hauptdarsteller: Der 12-jährige Cecilio Andresen als Jason stiehlt sogar den alten Hasen die Show.
Krieg im Kopf
Das Drehbuch von Richard Kropf („Kleo“, „4 Blocks“) enthält viele Szenen, die sich Jasons Wutanfällen widmen. So erlebt man mit Unbehagen mit, wie Außenstehende reagieren. Fremde Menschen halten Jason ganz einfach für einen völlig verzogenen Bengel und seine Eltern für pädagogische Versager. „Autismus ist eine Behinderung, keine Krankheit. Das geht nicht weg“, erklärt eine Psychologin den Eltern von Jason. In seinem Kopf sei Krieg, so beschreibt es Jason mit seinen eigenen Worten. „Da sind so viele Gedanken, die passen nicht zusammen.“
Jason ist nicht ungezogen, sondern ein armer Kerl, der aus seinen eigenen Zwängen kaum ausbrechen kann. Vielleicht verhilft dieser Film Autisten und ihren Angehörigen zu mehr Verständnis und Akzeptanz.
Die echten Wochenendrebellen 2017 im Stadion am Millerntor.
Foto: Sabrina Nagel/Jason von Juterczenka
Eine wahre Geschichte
Der Film von Regisseur Marc Rothemund („Dieses bescheuerte Herz“, „Mein Blind Date mit dem Leben“) ist herzerwärmend und nicht nur für Fußballfans, sondern alle, die gut gemachte Unterhaltung schätzen. Die Geschichte berührt gerade deswegen so sehr, weil sie tatsächlich passiert ist. Die „Wochenendrebellen“ gibt es wirklich. Mirco von Juterczenka und sein autistischer Sohn Jason reisten ab 2012 zu Fußballspielen durch Deutschland und Europa und hielt alle Erlebnisse in einem eigenen Blog fest. Aus dem Blog entstand 2017 ein Buch – und nun gibt es den Film.
Der echte Jason und sein Vater Mirco haben einen relativ ausführlichen Cameo-Auftritt in der Verfilmung. Im Max Morlock Stadion zu Nürnberg sitzen sie in der Reihe hinter ihren Film-Alter-Egos. Es ist Film-Jasons erster Besuch in einer Fußball-Arena und er möchte wissen, was die Zuschauer da singen. Während Film-Papa Mirco so tut, als hätte er den nicht jugendfreien Schlachtruf nicht verstanden, mischt sich der echte Mirco ein: „Die Zuschauer singen ,Schiri, du Uhrensohn’.“ Und der echte Jason ergänzt: „Weil er ja die Uhr hat, mit der Spielzeit drauf.“ Was für eine schöne Erklärung.
Wochenendrebellen. D 2023. Regie: Marc Rothemund. Mit Florian David Fitz, Aylin Tezel, Cecilio Andresen, Joachim Król. 109 Minuten. Ab 6 Jahren. Kinostart 28. September.