Darf Mick Jagger nicht mehr über den Zeitgeist stöhnen?
Wie sehr man einen Songtext missverstehen kann, das beweisen die Deutschen immer wieder gern. Fremdsprachenkenntnisse können hilfreich sein, vor allem dann, wenn man als Beruf Journalist angibt.
Doch der Reihe nach. Vor einer Ewigkeit, also vor mehr als 50 Jahren, rumpelte die Newcomerband The Rolling Stones mit Demoaufnahmen für einen neuen Song durchs Tonstudio. Soeben waren die Briten in den USA gewesen und hatten einen Groll auf Heile-Welt-Reklame und totalen Konsumrausch mit nach Hause gebracht. Sie waren das erste Mal drüben und Ober-Stone Mick Jagger berichtete, dort hätte man vom »American way of life etwas entfremdet«.
»No Satisfaction«
Wie auch immer, Keith Richards hatte gerade ein neues Verzerrerpedal, und das wurde auf den stampfenden Rhythmus gelegt. Ein neuer Sound mit scheinbar endlosem Appell: »I can’t get no satisfaction«. Das kam an. Fortan sprach man wegen der Magie dieser Message von einer Monsterband und einem Monstersong. Gesungen wurde gegen ködernde Werbetexte und vereinnahmende Medienmanipulationen.
Jagger stöhnte und stöhnte, er könne »einfach keine Befriedigung« dabei finden – womit sein Lebenssinn gemeint war. Das war damals durchaus die Meinung vieler Jugendlicher über »die da oben«, die einem das falsche Leben, die falschen Versprechungen und – mitsamt medialer Manipulation – einfach nur Sinnlosigkeit boten. Hierzulande kam diese Botschaft dennoch falsch rüber. Jaggers besungener Mangel an Befriedigung wurde fast ausschließlich sexuell gedeutet. Dabei waren die Stones stets mehr als ein blöder Herrenwitz.
Gesinnungspolizei
Jetzt gibt es nach all den Jahrzehnten tatsächlich ein Déjà-vu-Erlebnis, eine bizarre Wiederholung. In der »Süddeutschen Zeitung« greift Julian Dörr den armen Mick Jagger oberlehrerhaft an, weil dieser es gewagt hat, zwei neue Songs auf den Markt zu bringen, die angeblich nicht den Standards der selbst ernannten politisch korrekten Gesinnungspolizei entsprächen. »England Lost« und »Gotta get a grip« werden dabei reichlich missverstanden, was der überheblich wirkenden Hysterie auch noch eine reichlich peinliche Anmutung verpasst.
Jagger hat sich mit seinen 74 Rock ’n’ Roll-Jahren nicht die Bohne verändert. Er stöhnt und stöhnt wie schon bei »Satisfaction« über Zeitgeist und Zeitgenossen, über die da oben und uns da unten. Er sei zu müde, um ständig über Immigration reden zu müssen, jeder stopfe sich nur noch die Taschen voll, Nachrichten werden gefälscht und die Männer in den Anzügen ernteten den ganzen, fragwürdigen Ruhm.
Realität verbogen
Letztere Aussage erinnert an den deutschen Bestseller »Nieten in Nadelstreifen«. Wer dieses vielleicht etwas larmoyante Gestöhne eines inzwischen wohlhabenden Herrn nun gleich auf rechten Populismus abklopft, der hat mindestens einen Hackenschuss! Julian Dörr verbiegt die Realität, nennt Jaggers Singzeilen unpolitisch, um ihm so jedes Recht auf einen Kommentar gegen den Mainstream abzusprechen: »Wessen Standpunkt nimmt er ein? Den des kleinen Mannes? ... Seine ausgestellte Politisierung verliert sich im Nichts.«
Das ist schlicht infam. Jagger bleibt Jagger. Er war immer schon der ausgestellte Rebell, der er als volksnaher Künstler sein durfte. Aus Stimmungen im einfachen Volk ergeben sich Themen, darüber muss man stöhnen dürfen.
Übrigens: Ab September ist Mick Jagger wieder live auf der Bühne zu erleben. Am 9. September startet die »No-Filter-Tour« der Rolling Stones in Hamburg. Drei Tage später kommen sie nach München.