Eindrücke eines Stadtschreibers

»Istanbul ist nicht nur eine Wahrheit...«

José Oliver
Lesezeit 4 Minuten
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30. August 2013

(Bild 1/3) ©José Oliver

Es ist oft windig am Bosporus und dieser erste Brief hängt an einer Angel. Ich weiß nicht, wie weit ich ausholen muss, um sie gezielt zu werfen. Mit welchem Schwung, in welchem Bogen? Vielleicht bin ich es ja, der Köder ist. Das Wasser beißt sich ohne Unterlass ans Land und kaut die Gedanken zurück in die See. Das Los der 18-Millionen-Metropole auf zwei Kontinenten war letzten Endes immer von ihm aus besiegelt worden. Dem Meer. Das schönste Wort der türkischen Sprache sei jedoch kein kriegerisches, sondern yakamoz: »Der Mond, der sich im Wasser spiegelt«. Die jungen Männer, die nachts in seine Wellen springen, werden dereinst als Väter davon erzählen. Nur sie wahrscheinlich. Denn Frauen sah ich bisher keine, die unter den Blicken des Ufers gebadet hätten. Ich gehe Fischbrötchenessen. Die kleinen Holzhocker wirken heimisch, die Makrelen made in Norway.


Am Hafenkai von Tarabya liegt festgestampft ein täuschend echter Kunstrasenteppich. Die Illusion ist nahezu perfekt. Dahinter ein Betoncafé. In der Bodenkuhle eines Maulbeerbaumes sackt ein alter Schäferhund. Ein Knäuel wüst zerrupfter Zotteln. Das Ohr markiert. Er schläft. Ganz anders die Stadt, die niemals ruht. Der Flaneur denkt unweigerlich an Straßenfäulnis, Mottenfraß, an Hundefänger. Auch die Hardcore-Polizisten sind auf Fang aus. Unberechenbare Wespenschwärme. Die Luft ist aufgeheizt im Zentrum Istanbuls. Hier hingegen funkelt Asien mattglanzfriedlich übers Wasser. Ein herbeigezupfter Perlenturm. Nur ausgerollt.
Die Lichter glitzern nachtblaudunkel, hennarötlich, kupferneu. Die Stille der Moscheen mahnt prophetengrün, auch wenn die Müezzine nicht zum Gebet einladen. Manchmal lässt der Wind jedoch die Stimmen hinken. Dann gleichen die Rufgesänge einem Bandsalat des Himmels.


Vor kurzem begegnete mir der Satz: »Nimm von einer Geschichte, die man dir erzählt, die Hälfte, dann bist Du im Schatten der Wahrheit.« Mir wurde klar: Istanbul ist nicht nur eine Wahrheit. Istanbul ist ein Menschenatlas voller Wirklichkeiten und eines ganz gewiss: Schnittwundrand und Narbe der Geschichte.


Auf der Wasserstraße kreuzt seit ein paar Tagen die Kriegsmarine. Offensichtlicher als sonst. Tausende von syrischen Flüchtlingen sind bereits gestrandet. Die meisten hat die Stadt verschluckt. Schwarzarbeit ist billiger. Istanbul beugt in jedem Augenblick die Tempi. Ein Lehrstück für das, was Weltgeschehen ist an der Peripherie Europasiens. Verdrängtes weist ins verordnete Schweigen. Verschwundenheiten paaren sich mit bewahrtem Ata-Stolz und Religionsgepräge. Nur allmählich wird mir ein Gespür für die Schachspielregeln der Landessprache. Der türkischen Grammatik.


Es scheint als könnte man die Wörter unendlich aneinanderreihen. So wie diese Stadt ihr Maul aufsperrt und sich ins Hinterland verfrisst. Die Hüttennot der Slums; die schon am Reißbrett blankpolierten Bankhäuserminarette; die wohlstandskühlen Miniatur-Dubais für die, die börsendienen. Die Spiegelglas-Serails von Levent oder Maslak. Im Wettbewerb um die Historie, wo einst Byzanz ins Marmara-Meer trotzte und später Konstantinopel wurde und verging.

Die Griechen und Armenier sind auch nicht mehr. So wenig wie die anderen der Weltzusammenkunft. Von den Kirchen und Synagogen will ich noch nicht sprechen. Nur von den Roma, den zwangsumgesiedelten. Sie klettern Stadtbezirk um Stadtviertel hinauf und karren Altpapier wie Muli. Überall indes klingt Anatolien an und auf der Istiklal, der Einkaufsmeile, sind gar kurdische Weisen zu vernehmen.


Doch die Offenheit ist Scheingebet. In den Seitengassen von Beyoglu versagen sich ihm deshalb die Jungen. Und ihre Eltern. Die gen Westen zugewandten. Unweit von Gezi, gleich neben Taksim. Präsent. So wie unentwegt Touristendampfer am Goldenen Horn die schweren Anker setzen. Für ein paar Stunden Orient. Wunschbazar.  Nichts ahnen freilich die meisten Passagiere von den gottesfürchtigeren Ritualen in Teilen Fatihs oder von der jüngsten Wandersprache, die unvermeidlich in die frommen Viertel überschwappt. Die leichte russische Damenzunge für den ältesten Zeitvertreib der Hafenstädte.


In Kadiköy in Asien – köy heißt Dorf und kadi meint das Richteramt – steht vor einem Laden eine Schaufensterpuppe in Kindergröße. Blauäugig stumm erzählt sie von dem, was rumort. Sie trägt die Flecktarnuniform des Krieges. Mit Halbmondstern und Schulterklappen. Früh übt sich. Manche sagen, die sich häutende Ära hieße Postdemokratie. Nicht nur hier.

 

STICHWORT

Stadtschreiber


Der Hausacher Dichter José F. A. Oliver ist für vier Monate Stadtschreiber in Istanbul. Am Ende jeden Monats fasst er seine Eindrücke und Beobachtungen zusammen. In der für ihn eigenen lyrischen Art. Die nächste Folge lesen Sie Ende September.

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