Berlin

Michael Ondaatjes bewegender Familienroman

dpa
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14. August 2018
Michael Ondaatje schafft es wieder einmal meisterhaft, die Leser in eine düstere, abenteuerliche Welt hineinzuziehen.

Michael Ondaatje schafft es wieder einmal meisterhaft, die Leser in eine düstere, abenteuerliche Welt hineinzuziehen. ©dpa - Claudia Esch-Kenkel

«Im Jahr 1945 gingen unsere Eltern fort und ließen uns in der Obhut zweier Männer zurück, die möglicherweise Kriminelle waren.» So beginnt Michael Ondaatjes neuer Roman «Kriegslicht», und natürlich will man sofort mehr wissen über das Schicksal dieser Kinder.

Wir tauchen ein in das vom Krieg traumatisierte London, eine verwundete Stadt, in der die Grenzen zwischen Legalität und Verbrechen fließend sind.

Der 1943 in Sri Lanka geborene, in England aufgewachsene und seit 1962 im kanadischen Vancouver lebende Michael Ondaatje schafft es wieder einmal meisterhaft, uns in eine düstere, abenteuerliche Welt hineinzuziehen, in der unglaubliche Dinge passieren. Wie in seinem Erfolgsroman «Der englische Patient» (1992), der in diesem Sommer zum 50. Jubiläum der Auszeichnung mit dem «Golden Man Booker Prize» geadelt wurde, versammelt der Autor zum Kriegsende eine versprengte Gruppe von Menschen, die ihr Leben neu zusammensetzen müssen. Einige von ihnen waren Geheimagenten, die ihre Taten wie einen Fluch mit sich rumschleppen.

In «Kriegslicht» bleiben der knapp 15-jährige Ich-Erzähler Nathaniel und seine etwas ältere Schwester Rachel in der Obhut eines ominösen Mannes zurück, den sie nur den Falter nennen. Ihre Eltern sind angeblich nach Asien geflogen, weil der Vater dort einen Job angenommen hat. Für die abrupt verwaisten Geschwister öffnen sich unverhofft Freiräume, ins Internat gehen sie nur noch sporadisch. Bald wird ihre Wohnung bevölkert von zwielichtigen, aber nicht unsympathischen Gestalten wie dem Boxer, der zu einer Art Ersatzvater für Nathaniel wird, einer Opernsängerin oder der exzentrischen Ethnografin Olive Lawrence.

Ganz London wird zum Abenteuerspielplatz für die entwurzelten Teenager, die sich in der undurchsichtigen Erwachsenenwelt behaupten müssen. Nathaniel jobbt in einer Hotelwäscherei, stromert mit seiner Freundin Agnes nachts durch verlassene Wohnungen. Mit dem kumpelhaften Boxer kreuzt er mit einem «Muschelboot» über die Themse und schmuggelt Windhunde ins Land, die bei Rennen viel Geld einbringen sollen.

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Wie ein mäandernder Fluss mit vielen unbekannten Strömungen und Untiefen kommt dieser in kurze Abschnitte unterteilte, minutiös gebaute Roman daher. Ondaatje bleibt seinem fragmentarisch-lyrischen Stil treu, der perfekt zu seiner Geschichte über Geheimdienste und Camouflage passt. Süffig-weitschweifiges Lesefutter darf man von diesem Autor nicht erwarten.

Mutter Rose rückt in den Fokus

Die Familie wird für Nathaniel zum Flickenteppich, zum Lebensrätsel. Immer mehr rückt seine Mutter Rose in den Fokus. Welche geheimen Missionen hat sie ausgeführt? Wie war ihre Kindheit in der scheinbaren Idylle der ostenglischen Grafschaft Suffolk? Dorthin zieht sich der Erzähler Nathaniel 1959 im zweiten Teil des Romans zurück, um das Schicksal seiner inzwischen verstorbenen Mutter aufzuklären.

Ihre große Liebe war der Junge, der vom Dach fiel. Ein Dachdecker, den Rose als Kind kennenlernt, als er nach einem Unfall ein paar Wochen mit gebrochener Hüfte in ihrem Elternhaus verbringt. Dieser Marsh Felon wird Naturkundler und Geheimdienstler, führt ein unglaubliches Leben, und zieht Rose magisch in seinen Bann. Sie wird Geheimagentin, ihr Deckname ist Viola. So heißt auch die Heldin in Shakespeares Verwechslungskomödie «Was Ihr Wollt», die undercover als Mann unterwegs ist.

Vielfältig sind auch diesmal die literarischen und kulturellen Anspielungen. Vom Lyriker Thomas Hardy über den exzentrischen britischen Alpinisten Winthrop Young bis zu Cole Porter oder Claudio Magris. Nathaniels wissbegierige, lebenshungrige Mutter liebt den großen Romancier Balzac und seine vielbändige «Menschliche Komödie». Ein kleines Bruchstück aus dieser unermesslichen Chronik ist auch dieser Roman, dem die Trauer darüber eingeschrieben ist, dass sich Lebensgeschichten in der Moderne nicht mehr zum großen Ganzen runden.

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