Buch-Tipp: Don DeLillo, „Die Stille“

Und plötzlich gehen die Lichter aus

Stefan Kister
Lesezeit 4 Minuten
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16. Oktober 2020
Die Stadt, die niemals schläft, in völliger Dunkelheit: New York ist der Schauplatz von Don DeLillos neuem Werk. In unserer Bildergalerie können Sie sich durch seine wichtigsten Romane klicken.

(Bild 1/7) Die Stadt, die niemals schläft, in völliger Dunkelheit: New York ist der Schauplatz von Don DeLillos neuem Werk. In unserer Bildergalerie können Sie sich durch seine wichtigsten Romane klicken. ©Foto: imago images / ZUMA Press/Nancy Kaszerman

Das Ende kommt nicht mit einem Knall, sondern in der Stille. Der amerikanische Autor Don DeLillo zeigt in seinem neuen Roman, wie es ist, wenn sich die Ordnung, in der wir leben, auflöst.

Stuttgart - Das große Finale findet 2022 statt. Alles andere war nur ein Vorspiel, die Tornados, Dürren, das Virus, die Masken und entleerten Straßen.

Don DeLillo, der große amerikanische Gegenwartserzähler, versteht es wie kein zweiter, eine ganze Welt in knappe kompromisslos scharfe Schnappschüsse zu bannen, und sei es nur die Fluglinie eines entscheidenden Balls wie in seinem berühmten Gesellschaftspanorama „Unterwelt“. Nicht selten ist ein Sportplatz der geheime Mittelpunkt, von dem aus die verstörenden Dinge des Daseins herangezoomt werden. „End Zone“ hieß ein früher Roman des Autors, nach dem Bereich eines Football-Feldes, den ein Spieler mit dem Ball erreichen muss. Und auch da schon war das Ende der Welt nur einen Wurf weit entfernt.

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Auch im neuen Werk des 84-jährigen ewigen Literaturnobelpreiskandidaten, dem knappen Roman „Die Stille“, spitzen sich die Ereignisse auf den Super Bowl Sunday zu. Das Eheleute Jim und Tessa sitzen gerade im Flugzeug auf der Rückreise von Europa nach New York, wo sie zusammen mit Freunden das große Finale im Fernsehen anschauen wollen. Ein Bildschirm über ihren Köpfen hält alle Angaben einer exakten Ortsbestimmung fest, Flughöhe, Entfernung vom Zielort, Ankunftszeit, Temperatur. Und forderte man ein Beispiel für das, was es mit den erwähnten Schnappschüssen auf sich hat, man fände es in der Genauigkeit, wie hier die Benommenheit eines Langstreckenflugs zwischen raum-zeitlichen Delirien, Champagner mit Cranberrysaft und dem „Millionen-Meilen-Lächeln“ der Flugbegleiter aufgezeichnet wird.

Irgendetwas hebt die digitalbasierte Gegenwart aus den Angeln

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Gleichwohl ist DeLillo kein realistischer Erzähler, sondern ein visionärer, der den Ball mit unberechenbarer List in jene Zonen spielt, in denen die Gesetze der alltäglichen Wahrnehmung nicht mehr gelten. In Manhattan bereiten sich die Freunde auf den Fernsehabend vor, die Physikprofessorin Diane, ihr Mann Max und Martin, ein ehemaliger Schüler, dessen Psyche unter dem zwanghaften Studium von Einsteins Relativitätstheorie etwas gelitten hat. Über den Bildschirm flimmern die üblichen Vorberichte, unterbrochen von Werbeblöcken.

Und plötzlich wird es schwarz. Vermutlich zur selben Zeit, zu der sich Jim im Flugzeug vorstellt, wie die Leute auf die Sechs-Uhr-Nachrichten starren, weil gleich über einen Absturz berichtet werden würde. Denn auch dort oben sind die Bildschirme dunkel. Was nun folgt, könnte man als Katastrophenfilm im großen Stil inszenieren. Doch DeLillo macht daraus ein Kammerspiel. Die beiden Flugreisenden sind nach einer Notlandung mit einem blauen Auge davon gekommen und kreuzen nun doch noch zu dem endzeitlich verhagelten Fernsehabend auf. Statt des großen Knalls die Stille des großen Blackouts, der die digital basierte Gegenwart aus den Angeln hebt.

Geisterspiel auf totem Bildschirm

„Ist das die beiläufige Umarmung, die den Zusammenbruch der Weltzivilisation einläutet?“, fragt die Physikerin. Die fünf Personen des Romans finden darauf ihre eigenen Antworten: Dianes Mann synchronisiert vom Whisky inspiriert vor dem toten Bildschirm ein Geisterspiel in einem Flow aus Footballslang und Werbejargon. Ihr ehemaliger Schüler redet in physikalischen Zungen, seine einstige Lehrerin versucht darin einen erotischen Hintersinn zu entdecken. Während Jim und Tessa, die nach ihrem Überleben, erst einmal die Tiefe ihrer Verbindung auf einer Krankenhaustoilette bekräftigt haben, den Augenblick feiern.

Was genau passiert ist, bleibt buchstäblich im Dunkeln. DeLillo zeigt den gesellschaftlichen Ausnahmezustand nicht in dramatischen Bildern, sondern als allmähliches Zerbröseln der sprachlichen Ordnung in Obsessionen, Wahnideen, Erinnerungsbildern und Amnesien. Schließlich greifen die Auflösungserscheinungen auf den Text des Romans selbst über, was seine Kürze erklärt. Das ist unheimlicher als jede didaktische Untergangsfantasie und illustriert auf seine Weise, wie man sich im Kleinen denken muss, was das vorangestellte Motto Albert Einsteins im Großen in Aussicht stellt: „Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der Dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im Vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.“

Don DeLillo: Die Stille. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Kiepenheuer und Witsch. 112 Seiten, 20 Euro.

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