„Vincent will Meer“ konfrontierte mit Tourette-Syndrom

Auf großer Reise: Vincent (Markus Feustel, von links), Marie (Theresa Horeis) und Alex (Marco Reimers) in der Theaterfassung von „Vincent will Meer“. ©Oscar Sala
Mit dem Schauspiel „Vincent will Meer“ von Florian David Fitz eröffneten die Hamburger Kammerspiele am Montagabend die Kehler Theatersaison 2019/20. Im Mittelpunkt steht ein junger Mann, der am Tourette-Syndrom leidet, und den letzten Wunsch seiner verstorbenen Mutter erfüllen will.
Da fliegen unanständige Wörter wie „Sch...“, „Fi…“ und „Vo…“ nur so durch die Gegend. Vermutlich ist in der Kehler Stadthalle noch nie so viel geflucht und geschimpft worden wie am vergangenen Montagabend zum Auftakt der Theatersaison. Dennoch: das Publikum zeigt Verständnis für die verbalen Ausrutscher auf der Bühne. Immerhin hatte ein Ensemblemitglied der Hamburger Kammerspiele vor der Aufführung der Bühnenfassung des Kino-Erfolgs „Vincent will Meer“ vorsorglich auf den ernsten Hintergrund der Thematik hingewiesen. Viele der Theaterbesucher in der vollbesetzten Stadthalle hatten wohl zum ersten Mal vom Tourette-Syndrom gehört, jener Erkrankung des Nervensystems, die durch vokale Tics charakterisiert ist.
Die Theaterfassung von Florian David Fitz nimmt im Laufe des Stücks den Charakter eines Roadmovie an. Die Mutter von Vincent (Markus Feustel) ist gerade verstorben, Vater Robert (Till Demtrøder) ist ein vielbeschäftigter Lokalpolitiker, der sich mitten im Wahlkampf befindet. Sohn Vincent, der das Tourette-Syndrom hat, schmeißt in den unpassendsten Augenblicken mit Schimpfwörtern um sich. Schlecht für’s Image allemal: „Du und deine Mutter. Wenn es dich nicht gegeben hätte, hätte sie nicht gesoffen“, behauptet der Vater und steckt den Sohn in eine psychiatrische Anstalt.
Mit dem überholten Therapieansatz von Dr. Petrova (Marina Weis) weiß Vincent nichts anzufangen. Wie gut, das er dort die magersüchtige Marie (Theresa Horeis) trifft, die ohnehin schon längst von diesem Ort abhauen wollte. Vincent will ebenfalls weg, samt die Asche seiner Mutter, die er in einer Bonbondose bei sich trägt. Es war der letzte Wusch seiner Mutter, noch einmal ans Meer zu reisen. Vincent und Marie klauen den Wagen ihrer Ärztin und machen sich auf den Weg. Der Zwangsneurotiker Alex (Marco Reimers) gesellt sich zunächst widerwillig hinzu. Verfolgt werden die drei von Vincents Vater und der Ärztin.
Es ist eine Reise zu sich selbst mit der Erkenntnis, dass Freundschaft und Liebe die inneren Mauern abreißen kann. Trotz des ernsten Hintergrunds droht die Handlung nicht in Pathos zu verfallen. Im Gegenteil: Sie ist mit komödiantischen Szenen gespickt. Ralph Bridle hat in seiner Inszenierung alle multimedialen Register gezogen: Neben Licht und Musik sind Videoeinspielungen zu sehen.
Schräges Bühnenbild
Das fünfköpfige Ensemble agiert eineinhalb Stunden lang auf Mascha Denekes gewagtem Bühnenbild, einer hochsteigende Schräge. Das Konstrukt nimmt die Schieflage der Figuren auf und gibt diese wieder. Die jungen Darsteller liefern mit ihrer erfrischenden Art ihres Spiels eine glänzende Leistung ab, die unbedingten Beifall verdient. Markus Feustel spielt mit Hingabe und überzeugend. Jedes Zucken oder obszöne Wort sitzt. In seiner Rolle als Vincent leidet er an der Gleichgültigkeit seines Vaters und trauert um seine tote Mutter. Vor allem ist es aber die innere Einsamkeit, die in quält.
Ein Gefühl, die er mit seinen Weggefährten Marie und Alexander teilt. Marco Reimers ist die perfekte Besetzung für den stets weiße Handschuhe tragenden Zwangsneurotiker. Maries Magersucht wird von Theresa Horeis eindringlich dargestellt. Nicht zuletzt gewinnt das Stück durch die Mitwirkung der erfahrenen Schauspieler Till Demtrøder und Marina Weis.
Trotz des unbehaglichen „Flüche-Tsunamis“ gibt es zum Schluss langanhaltenden Applaus für alle fünf Protagonisten. Ein gelungener Auftakt für die neue Theatersaison.