Wie sich der Graf von Monte Christo heute rächt
Stuttgart - Es gibt keinen Kerker, keine Sklavinnen, keinen auf einer einsamen Insel vergrabenen Schatz. Und doch ist in Leila El Omaris Jugendbuch „Wozu wir fähig sind“ im Hintergrund eine Kraft am Wirken, die aus einer anderen Zeit zu uns zu sprechen scheint. Um Rache geht es in diesem außergewöhnlichen Buch – in einem ganz emotionalen, archaischen Verständnis. Wer sich mit Literatur auskennt, für den hat die Autorin durch die Grundkonstellation, die Dramaturgie und die Figuren ihres Romans die Fährten so deutlich gelegt, dass sie ohne Umwege zu Alexandre Dumas Seniors Roman „Der Graf von Monte Christo“ führen.
Jeder hat hier Leichen im Keller
Dabei hat Leila El Omari den fast zweihundert Jahre alten Plot treffsicher mitten in unsere Aktualität verpflanzt; Studenten und junge Menschen in einer deutschen Universitätsstadt sind ihre Akteure. Nicht Gift und Duelle, sondern Handyfilme und Börsenspekulationen sind nun Teil eines mit Kalkül inszenierten Racheplans. Vor allem geht es aber in „Wozu wir fähig sind“ in einem sehr modernen Sinn um die Frage, welchen Preis jeder von uns zu zahlen bereit ist, um sein eigenes Glück voranzubringen. Nimmt man für das persönliche Vorankommen die Nachteile anderer in Kauf? Heute muss jedem klar sein, dass das eigene Handeln oft weitreichende Folgen hat. Sehr zugespitzt – mit Jugendhaft, Totschlag, Mitwisserschaft, Selbstmord – wird die Fragestellung in „Wozu wir fähig sind“ verhandelt. Dieser Blutzoll mag der historischen Vorlage geschuldet sein; aber er macht „Wozu wir fähig sind“ auch zum überaus spannenden Thriller, dessen moralische Lehre sich einbrennt, wenn am Ende Leichen aus den Kellern der charmantesten Charaktere gezerrt werden.
Im Mittelpunkt: junge Menschen aus gutem Haus
Im Mittelpunkt steht eine Clique freundlicher junger Menschen aus gutem Hause. Die Psychologie-Studentin Alina und ihr gut aussehender Freund Patrick, der Jura studiert und sich sozial engagiert, sind die Fixsterne dieses kleinen Kosmos; dazu kommen der Selfmademan Robin und Hannah, die Tochter eines Staatsanwalts, die aus der Sicht ihres Vaters mit dem falschen Jungen ausgeht. Dass dieser Max Journalist werden will und auf die große Geschichte wartet, gießt am Ende Feuer in die Intrige – aber da brennt eigentlich schon die ganze Hütte. Angezündet haben sie Alexander und Leonora, die eines Tages als geheimnisumwobenes, dunkles Paar auftauchen. Wer sie wirklich sind, welches Unrecht ihnen von wem angetan wurde und wie sie sich dafür rächen wollen, flicht Leila El Omari Fädchen für Fädchen in die Textur ihres Romans ein. Starke Dialoge ziehen in eine Erzählung hinein, die mit Rückblenden, kunstvoll konstruierten Charakteren und klug gestreuten Hinweisen aufmerksame Leser braucht.
Egoismus hier, Wegschauen dort
Wer ist Täter, wer Opfer? In „Wozu wir fähig sind“ vermengt Leila El Omari die Kategorien von Gut und Böse realitätsnah. „Im Nachhinein habe ich mich immer darüber gewundert, dass wir damit durchgekommen sind.“ Mit dieser Aussage eines Beteiligten beginnt und endet der Roman, weitere Zitate am Anfang eines jeden Kapitels weisen darauf hin, dass der Egoismus der einen und das Wegschauen der anderen eine ziemlich hässliche, aber in einer Ellbogen-Gesellschaft auch ziemlich verbreitete Mischung ergeben kann. Und nicht immer wartet am Ende ein Prozess, der Schuld und Sühne sauber sortiert. Ob das überhaupt geht, ist eine der Fragen, die Leila El Omari offen lässt. Die in Münster geborene Autorin, die palästinensische Wurzeln hat und Orientalistik, Germanistik und Politikwissenschaften studierte, ist eher für exotisch angehauchte Liebesromane bekannt. Mit ihrem zweiten Jugendbuch gelang ihr ein aktueller Plot fern jeder Romantik.
Leila El Omari: Wozu wir fähig sind. Coppenrath-Verlag. 256 Seiten. 16 Euro. Ab 14 Jahren