»Älter als wir sind nur die Japaner«
Der gebürtige Berliner Jens Stecher begann 2011 als Demografieberater mit der Arbeit der Badischen Demografie Agentur (BDA) in Offenburg. Bis Mitte 2014 leitete er das Projekt und beriet Unternehmen und Kommunen bei der Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels. Nach wie vor ist er im Bereich der Kommunalen Arbeitsförderung des Landratsamts Ortenaukreis tätig.
Wir leben länger, sind gesünder und mobiler als alle Generationen vor uns. Und unsere Gesellschaft wird immer vielfältiger. Toll, oder?
Jens Stecher: Wenn man es richtig gestaltet, kann das schon toll werden.
Wie meinen Sie das?
Stecher: Das fängt bei der Integration von Flüchtlingen an. Da ist noch einiges zu tun. Und es geht weiter mit dem Umgang mit dem Alter. Wir müssen das Alter wertschätzen und den Zusammenhalt in der Gesellschaft stärken. Die einzelnen Menschen müssen mehr integriert werden. Das sehe ich immer in Italien oder Frankreich: Da sitzen 20 alte Männer in einer Bar und spielen Karten. Oder spielen im Park »Boules«.
Der demografische Wandel wird Deutschland in den nächsten Jahren tiefgreifend verändern. Was steht uns denn genau bevor?
Stecher: Deutschland altert. Älter als wir sind nur die Japaner. Die häufigsten Schlagworte ranken sich um Rente und soziale Sicherung, Fachkräftebedarf, Migration und sinkende Geburtenraten. Wurden 1964 noch 1 357 304 Kinder geboren, betrug die Zahl der Geburten 2012 weniger als die Hälfte: 673 570.
Die 1964 Geborenen werden bald in Rente gehen...
Stecher: Genau. Wenn die in 17 Jahren in den Ruhestand gehen, können deren Arbeitsplätze nur noch zur Hälfte besetzt werden. Die andere Hälfte wurde ja nicht geboren. Bei uns kommt noch etwas hinzu: die gestiegene Lebenserwartung, also die Veränderung der Altersstruktur. Die Anzahl der älteren und hochbetagten Menschen wird enorm steigen.
Wo liegen die Gründe?
Stecher: Wir leben in einer lebenswerten Region mit gutem Essen und Wein. Hinzu kommen der medizinische Fortschritt und ein gewachsenes Gesundheitsbewusstsein.
Wie äußert sich das Älterwerden bei uns?
Stecher: Unterschiedlich. Wir haben einmal die prosperierende Rheinschiene und die Mittelzentren, sowie die etwas abgelegenen Täler. Dort ist der demografische Wandel bereits im Gange: Schließung von Schulen, Leerstände von Wohnhäusern und eine ausdünnende Infrastruktur.
Wie alt werden die Ortenauer denn im Jahr 2030 sein?
Stecher: In Oberkirch steigt der Anteil der 65- bis 79-Jährigen um circa 45 Prozent, der Anteil der ab 85-Jährigen um 25 Prozent. Alle anderen Altersgruppen gehen zurück. Besonders dramatisch: Der Rückgang von jungen Menschen zwischen 16 und 24 Jahren um circa 30 Prozent. Das sind die potenziellen Auszubildenden und Studierende.
Und die jungen Menschen, die da sind, wollen nicht im Renchtal leben...
Stecher: Das »Problem« ist, dass wir eine hohe Abiturs-Quote haben. Die Frage ist, ob die Studierenden nach dem Studium zurückkehren. Die Kommunen müssen an ihrer Attraktivität für junge Menschen arbeiten. Ein Vorteil für unsere Region sind die Hochschulstandorte in Offenburg und Kehl.
Apropos Arbeit: In Südbaden werden laut Agentur für Arbeit Offenburg bis zum Jahr 2025 rund 24 000 Fachkräfte fehlen...
Stecher: Das wird wehtun. Aber wir könnten das abfedern. Durch die Rente mit 67 beispielsweise, wobei eine Anhebung auf 70 Jahre bereits in den Schubladen liegt. Die Rente mit 63 nach 45 Versicherungsjahren wird nachfolgende Generationen belasten. Was helfen würde, wäre die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung Älterer. Das hat sich in der Vergangenheit schon gut entwickelt. Unternehmen holen bereits ihre Rentner zurück. Auch die Erwerbsquote von Frauen muss gesteigert werden und von Menschen mit Migrationshintergrund. Und dann müssen auch arbeitslose Menschen mehr gefördert und in den Arbeitsmarkt reintegriert werden.
In Ostdeutschland ist die Abwanderungswelle zum Teil dramatisch. Inzwischen lässt man sich kreative Lockmittel einfallen, um die Bevölkerung zurückzuholen. Was müssen wir tun, damit es gar nicht erst soweit kommt?
Stecher: Noch sind wir eine attraktive Region, können sogar einen leichten Zuzug vorweisen, aber ein gewisser Kannibalismus um junge Talente und Familien zeichnet sich bereits ab. Kommunen bieten günstige Bauplätze für junge Familien an, um sie anzusiedeln. Auch Programme zur Gewinnung von Ärztenachwuchs in der Ortenau laufen. Die Wirtschaftsregion Ortenau hat ein Programm zur Nachwuchs- und Fachkräftegewinnung gestartet. Und was die Menschen noch anzieht, sind natürlich Bildungs-, Kultur- und Freizeitangebote.
Fakt ist: Die Bevölkerung wird älter. Wie kann unsere Region altengerecht gestaltet werden?
Stecher: Der demografische Wandel ist ein schleichender Prozess, der Thematik wird insgesamt noch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Eine intensive Annäherung an das Thema war 2014 der Demografie-Workshop mit Bürgermeistern im Landratsamt des Ortenaukreises. Ziel war, eine regionale Demografiestrategie für den Ortenaukreis zu entwickeln.
Wie werden die Menschen in der Ortenau in den kommenden Jahrzehnten leben und arbeiten?
Stecher: Tendenzen wie in den neuen Bundesländern, im Saarland, Hessen und Nordbayern sind noch nicht ausgeprägt in unserer Region. Deshalb ist eine frühzeitige Auseinandersetzung wichtig. Eine Kommune muss für ihre Bürger lebenswert bleiben, aber auch die Rückkehr von der Individualisierung hin zu mehr Gemeinschaftssinn ist erstrebenswert.
Sie meinen mehr Nachbarschaftshilfe?
Stecher: Ja, entscheidend ist auch der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Eins muss jedoch klar sein: Bei der Daseinsvorsorge muss der ländliche Raum Abstriche gegenüber Städten machen. Eine gleichwertige Versorgung und Aufrechterhaltung der Infrastruktur kann in Zukunft nicht funktionieren. Deshalb müssen die Bürger mitgestalten.
Sie arbeiten im Landratsamt Ortenaukreis. In den kommenden zehn Jahren werden altersbedingt rund 400 Mitarbeiter (von circa 1800) das Amt verlassen. Auch die Kreisbehörde wird sich mit der Thematik befassen müssen, oder?
Stecher: Das ist ja ein allgemeiner Trend, nicht nur bei uns. Im öffentlichen Dienst ist der Altersdurchschnitt höher als in der Privatwirtschaft. Um Nachwuchs zu gewinnen, müssen Verwaltung und Unternehmen an ihrer Attraktivität feilen. Ich denke da an ein lebensphasenorientiertes Personalmanagement, Gesundheitsmanagement sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Der gemeinsame Betriebskindergarten in Kooperation mit dem Burda-Verlag ist ein sehr gutes Beispiel. 2014 wurde die Stadtverwaltung Lahr übrigens für ihre demografieorientierte Personalpolitik ausgezeichnet. Und: Der öffentliche Dienst wird für junge Menschen gerade wieder attraktiver.
Warum?
Stecher: Der öffentliche Dienst hatte es in der Vergangenheit zum Teil schwer gegenüber den Unternehmen. Die junge Generation Y, die in den nächsten Jahren den Arbeitsmarkt betritt, tickt etwas anders. Jetzt kann der öffentliche Dienst punkten: Sichere Arbeitsplätze erleichtern die Lebensplanung und sind wichtig für junge Menschen. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist bei vorhandenen flexiblen Arbeitszeitmodellen gut gestaltbar. Das Aufgabengebiet ist vielseitig und interessant. Also los, wir brauchen guten Nachwuchs!
Die ersten Folgen im Überblick
Deutschland altert. Denn die Menschen werden älter und die Zahl der Geburten geht zurück. Auch in Oberkirch und im Renchtal. In einer mehrteiligen Serie widmet sich die Acher-Rench-Zeitung dem demografischen Wandel.
Die ersten drei Folgen erscheinen vor den Sommerferien. Die verbleibenden Serienteile folgen ab August. Die ersten drei Folgen im Überblick:
◼ Folge 1: Interview mit dem Offenburger Demografieexperten Jens Stecher, 30. Mai (heute)
◼ Folge 2: Tourismus und Wirtschaft – Fürchtet man sich vor den Bevölkerungsprognosen? Anpassungen und Strategien (6. Juni)
◼ Folge 3: Wohnraum in den Innenstädten, Immobilienpreise, Bezahlbarkeit der Infrastruktur (13. Juni)