Achern / Oberkirch

»Keiner ist wieder hergezogen«

Lesezeit 4 Minuten
Jetzt Artikel teilen:
23. Februar 2013
Der jüdische Friedhof von 1816 in Freistett: Zahlreiche Grabsteine mit ihren hebräischen Inschriften sind fast alles, was heute an die Geschichte der Juden in Rheinau erinnert. Diese begann gegen 1700 und endete tragisch in der Nazizeit.

(Bild 1/2) Der jüdische Friedhof von 1816 in Freistett: Zahlreiche Grabsteine mit ihren hebräischen Inschriften sind fast alles, was heute an die Geschichte der Juden in Rheinau erinnert. Diese begann gegen 1700 und endete tragisch in der Nazizeit.

Deutschland und die Juden, das ist geschichtsbedingt nach wie vor ein »schwieriges Kapitel«. Auch in Rheinau, wo es bis in die Nazizeit eine jüdische Gemeinde gab. Gerd Hirschberg hat ihre guten und schlechten Tage recherchiert. Und das hat einen Grund.

Rheinau-Freistett. Die jahrhundertealte Geschichte der Juden in Rheinau verliert sich in der Nazizeit. Manche sind rechtzeitig ausgewandert. Die verbliebenen Männer kamen 1938 vorübergehend ins KZ Dachau. Wer 1940 noch hier lebte, wurde deportiert nach Gurs in Südfrankreich und von dort 1942 ins Vernichtungslager Auschwitz. Wer vorher unter Zurücklassung von allem auswandern konnte, hatte Glück und kam mit dem Leben davon. Zurückgekehrt ist von den vor Kriegsbeginn über 100 Juden keiner. Niemand, der aus erster Hand von den Schrecken erzählen und mahnen könnte, niemand, der ihre Geschichte »weiterschreibt«.

Gerd Hirschberg ist weder Jude, noch Zeitzeuge, und nicht einmal gebürtiger Rheinauer. Als der heute 65-jährige Psychologe 1984 mit seiner Familie nach Freistett zog, entdeckte er den unscheinbaren jüdischen Friedhof mit seinen rund 600 Gräbern im Kreuzungsbereich der B 36 und L 87, auf den kein Schild hinwies. Damals begann für ihn eine mittlerweile rund 25-jährige aufwendige Recherche über das Leben der Juden vor Ort.

300 Seiten Geschichte

»Mir ist wichtig, die Vernichtung der jüdischen Gemeinden Freistett und Rheinbischofsheim nicht durch Stillschweigen im Nachhinein mitzutragen«, sagt Hirschberg. Ganz ohne erhobenen moralischen Zeigefinger, aber in tiefem Bewusstsein, dass seine Arbeit auch heute, viele Jahre später, wichtiger ist denn je.

Das Ergebnis seiner Recherche, die mit der Entstehungsgeschichte des Freistetter Judenfriedhofes begann, ist ein Aktenordner mit rund 300 Seiten – von der ersten Ansiedlung von Juden in Rheinau gegen 1700 bis zu ihrem tragischen Ende unter Adolf Hitler. »Es ist kein einziger überlebender Jude wieder hierhergezogen«, weiß Hirschberg.

Seine Suche führte den Hobby-Historiker ins Generallandesarchiv Karlsruhe, ins Staatsarchiv Freiburg und ins Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Jetzt plant er, seine Arbeit mit Unterstützung der Stadtverwaltung in Buchform herauszubringen. Seine große Hoffnung ist dabei auch, Kontakte zu überlebenden Rheinauer Juden und ihren Nachfahren zu knüpfen und so mehr über ihre Geschichte zu erfahren.

»Das Verhältnis von Juden zu Nichtjuden war bis zu den Nazis nicht belastet«, sagt Hirschberg. Weil sich damals praktisch niemand den Faschisten in den Weg stellte, schämten sich im Nachhinein viele Menschen für das, was geschah, und das führe dazu, dass sie die Ereignisse verdrängten und schwiegen, deutet der Psychologe. Obwohl sie nicht »judenfeindlich« seien, sei die Auswirkung genau das.

»Klare Worte sind nötig«

Dass seine eigenen Recherchen mitunter auf gewisse Vorbehalte in der Bevölkerung stoßen, ist für Hirschberg nicht neu. »Das darf man nicht dabei belassen«, sagt Hirschberg und verweist auf jüngste Projekte und Initiativen, etwa das Mahnmal vor der Kirche in Rheinbischofsheim, den 2008 nach langem Widerstand aufgestellten Gedenkstein auf dem Freistetter Marktplatz, engagierte Lehrer und Schüler im Anne-Frank-Gymnasium, die bereits einige Aktivitäten gestartet hätten, aber auch das Bündnis »Bunt statt braun«.

- Anzeige -

»Für mich gibt es nichts, was nicht politisch ist«, sagt Gerd Hirschberg auf die Frage, ob ihm manchmal nicht eine beherztere Stellungnahme aus seinem Umfeld fehlt – etwa, wenn wieder Neonazis am »Panzergraben« aufmarschieren und andere schweigen.

Recherchen

Nachfolgend einige Fakten, die Gerd Hirschberg über das Leben der Juden in Rheinau zusammengetragen hat:

Ab circa 1700 ließen sich Juden in Bodersweier, Rheinbischofsheim, Freistett und Lichtenau nieder, nachdem sie vom Grafen von Hanau-Lichtenberg eine Niederlassungsfreiheit erhalten hatten.

Die »Blütezeit« der Juden in Rheinau war gegen 1870. Damals waren sieben Prozent der Bewohner in Neufreistett und 15 Prozent in Rheinbischofsheim Juden.

In Rheinau waren sie vor allem Vieh- und Seegrashändler, da sie weder Grunderwerb besitzen noch einer Zunft beitreten durften.

1933 lebten in Freistett 39 und in Rheinbischofsheim 84 Juden. 1935 löste sich die jüdische Gemeinde in Freistett auf und vereinigte sich mit Rheinbischofsheim. Wohl nach dem Novemberpogrom wurde die Freistetter Synagoge abgerissen. In der Synagoge in Rheinbischofsheim wurde der Gottesdienstraum verwüstet, aber nicht das ganze Gebäude, weil hier auch eine christliche Frau lebte. 1940 wurden die letzten verbliebenen Juden in Rheinau deportiert. Vermutlich zahlten neun Freistetter und zwölf Rheinbischofsheimer Juden den Nazi-Terror mit dem Leben

Zur Person

Gerd Hirschberg, Jahrgang 1948, stammt aus der Region Mannheim und ist in einem evangelisch geprägten Elternhaus aufgewachsen. Seine erste Begegnung mit dem Nazi-Terror erlebte er in den 50er Jahren als kleiner Junge beim Besuch des KZ Bergen-Belsen. Sein Vater engagierte sich in der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, reiste öfters nach Israel und hatte engen Kontakt zur Mannheimer Jüdischen Kultusgemeinde.

Mit dem Verlassen des Elternhauses nach dem Schulabschluss »pausierte« Gerd Hirschbergs aktives Interesse an der jüdischen Geschichte in Deutschland – bis er 1984 als Wahl-Freistetter auf den Friedhof der Gemeinde stieß.

Weitere Artikel aus der Kategorie: Achern / Oberkirch

Die Illenau-Anwohner wehren sich gegen den nächtlichen Lärm.
vor 3 Stunden
Achern
Im Oktober sollen sich Ausschuss und Gemeinderat mit der nächtlichen Lärmbelästigung beschäftigen. Was ist aus Sicht des Straßenverkehrsrechts und den Ordnungsamtsrechts möglich?
Seit 40 Jahren reisen Victoria und Louis Alexander aus der Metropole London nach Sasbachwalden, denn sie finden hier alles, was ihnen Ruhe, Erholung und Frieden schenkt. 
vor 4 Stunden
Sasbachwalden
Das Ehepaar Victoria und Louis Alexander aus London zieht es seit 40 Jahren im Urlaub nach Sasbachwalden.
Für diese Pistole mit Neun-Millimeter-Kaliber ist eine Waffenbesitzkarte vonnöten. Im Renchtal gibt es nach behördlichen Informationen hunderte Waffenbesitzer.
vor 6 Stunden
Oberkirch
Bei Waffenbesitzern im Renchtal handelt es sich meist um Jäger, Sportschützen oder Traditions-Pfleger. Verstöße werden hier laut Behörden nur selten erfasst. Ein Blick auf Daten und Zahlen.
Die Messerkriminalität unter jungen Menschen ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Manche Jugendliche führen auch verbotene Waffen mit sich.
vor 6 Stunden
Oberkirch
Die Messerkriminalität in Deutschland steigt. Vor allem unter Jugendlichen. Das Renchtal ist von dieser Entwicklung bislang verschont geblieben. Hier liegt die Fallzahl laut Polizei "sehr niedrig". Auf eine Feststellung wird wertgelegt.
Lautenbach will keine zusätzlichen Gelder zur Förderung des Integrationsmanagements bereitstellen. 
vor 7 Stunden
Lautenbach
Im Gemeinderat sieht man sich als "letztes Glied in der Kette", dass wieder einmal Mehrkosten tragen solle. Das sei ein "Armutszeugnis des Landes".
Der Knoten Gewerbe-/Gieselbachstraße bereitet Honaus Ortsvorsteherin Annette Fritsch-Acar Sorgen.
vor 8 Stunden
Autos fahren braver als angenommen
Die Ergebnisse der Verkehrsschau in Honau liegen vor. Was nun konkret verbessert wird, trug die Ortsvorsteherin dem Ortschaftsrat vor.
Die Gehwegsanierung im Bereich Brunnentempel läuft in Bad Peterstal nicht ganz so, wie ursprünglich geplant. Derzeit regelt eine Ampel die einspurige Verkehrsführung an der Baustelle. Kommende Woche droht Verkehrsteilnehmern auf der Ortsdurchfahrt von Bad Peterstal eine noch größere Behinderung durch drei Ampelanlagen hintereinander. ⇒ Foto: Jutta Schmiederer
vor 11 Stunden
Bad Peterstal-Griesbach
Wegen Verzögerungen an der Baustelle am Brunnentempel werden Autofahrer kommende Woche auf einer Strecke von rund einem Kilometer drei Baustellen mit Ampelregelung passieren. Die Planung der Gemeinde können die übergeordneten Behörden nicht berücksichtigen.
Symbolbild.
vor 12 Stunden
Achern / Oberkirch
Die Polizei sucht nach bislang unbekannten Tätern, die in Achern einen etwa 50 Meter langen Kupferdraht zwischen Obstbäumen gespannt haben. Dieser hätte Traktorfahrer erheblich verletzen können.
Der Mann kam trotz Platzverweis zurück. 
vor 12 Stunden
Achern / Oberkirch
Ein alkoholisierter und aggressiver Mann wurde am Mittwochnachmittag in Oberkirch der Polizei gemeldet. Trotz eines anschließenden Platzverweises kehrte er nach ein paar Stunden wieder an denselben Ort zurück.
Am 26. Oktober findet die erste Acherner Lachnacht statt. Moderiert wird der Abend von Frederic Hormuth auch mit humorvollen Songs am Piano.
vor 15 Stunden
Im Oktober geht es los
Kultur ist immer so ernst? Das Kabarettprogramm des "gong Achern" kann sich sehen lassen. Erstmal gibt es sogar eine Lachnacht.
Die Arbeiten am Kulturforum (hier ein Foto aus dem Jahr 2022) neigen sich nun dem Ende zu. Überplanmäßig stand nun eine Ausgabe von 250.000 Euro an. 
vor 20 Stunden
Achern
Der Acherner Gemeinderat genehmigte überplanmäßige Ausgaben für die Außenanlagen des Kulturforums nachträglich. Bürgermeister Kollefrath verweist auf die baldige Eröffnung.
Bürgermeister Oliver Rastetter (rechts) und Markus Bogner (links) begrüßen die neuen Auszubildenden bei der Stadt Rheinau (von links): Lia Kunze, Alana Pfetzer, Evelyn Sabilo, Chiara Bühler und Alina Schans.
vor 20 Stunden
Neues Ausbildungsjahr
Das Einsatzgebiet der Neuen in Rheinau reicht von der Stadtverwaltung bis zur FSJ-Stelle.

Das könnte Sie auch interessieren

- Anzeige -
  • Außenansicht der generalsanierten Gebäude in der Offenburger Oststadt. Sie werden exklusiv vom Maklerbüro Arnold Ernst vermarktet.
    07.09.2024
    Seit mehr als 60 Jahren aktiv und fair am Markt präsent
    Mit 18 Mitarbeitenden, zwei Standorten, mehr als 2500 bisher verkauften Objekten, mehr als 3000 vermieteten Objekten und ebenso vielen Wohnungen in der Verwaltung ist das Offenburger Büro ein "Schwergewicht" der Branche in der Region.
  • Gemeinsam tanzen oder gemeinsam fit halten. Das ist in den Seniorenkursen des Tantstudios DanceInLine von Julia Radtke möglich. 
    30.08.2024
    Tanzstudio DanceInLine bietet Kurse für Junggebliebene an
    Tanzen ist Bewegung, Geselligkeit und es kennt kein Alter. Im Tanzstudio DanceInLine von Julia Radtke tummeln sich alle Altersgruppen und haben Freude an der Bewegung. Im Herbst starten neue Kurse.
  • Spanndecke, Beleuchtung, Akustik, Infrarot.: Seit 40 Jahren ist Plameco Zell a. H. der Experte für Spanndecken in der Ortenau. Spanndecken bieten viele Vorteile unter anderem sind sie feuchtraumgeeignet, schimmelhemmend und sind nach Wunsch gestaltbar.
    29.08.2024
    Plameco gestaltet moderne Raumdecken in nur einem Tag
    Spanndecken, Beleuchtung, Akustik und Infrarotheizung: Spanndecken sind in vielen Farben und Oberflächen erhältlich und werden individuell gestaltet. Plameco in Zell a. H. ist der Experte vor Ort und lädt vom 29. bis 31. August in seine Ausstellung ein.
  • Let's rock: Am Moosenmättle geht zur Feier des 40. Geburtstags zwei Tage lang die Post ab. 
    01.08.2024
    Kinzigtal-Kult: Moosenmättle Open Air am 9. und 10. August
    Es ist legendär und hat an Strahlkraft nichts verloren: das Wald-und-Wiesen-Open-Air auf dem idyllischen Hochplateau Moosenmättle in 780 Metern Höhe nahe dem Liefersberg. Am Grenzstein von Baden zu Württemberg wird wieder ordentlich gerockt – zur Freude von 1000 Gästen.