Lauf erlebten großartig erzählte Zeitgeschichte
Ein rollendes Fahrgestell. Darauf ein Haus. Drei Stockwerke hoch. Unten befindet sich die gute Stube mit Blümchentapeten und abgewetztem Ledersessel. Direkt daneben der Stall. Darüber die Wohnstube, Schlafzimmer, der Dachboden. Spielstätte, die Ortenau der 1940er bis 60er Jahre. Im Stall treffen sie sich, die vier Kinder, geboren während, oder unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Mädchen tragen Zöpfe und Schleifen im Haar, Wolljäckchen und Strümpfe, die in derben Schnürstiefeln stecken. Die Jungs sieht man in kurzen Hosen, karierten Hemden und dem typischen Kurzhaarschnitt.
Marthe, Hannah, Franz und Rudi, sie alle sind ein Teil der Heimatrevue, deren Inhalt Edzard Schoppmann, Intendant des Baal Novo Theater Eurodistrict in mühevoller Recherche zusammen getragen hat. Zwei Jahre war er unterwegs zu Zeitzeugen, zu Männern und Frauen, die den Krieg in ihrer Kindheit erlebt haben. Herausgekommen ist ein zweistündiges Programm das nun durch die Ortenau tingelt. Nach Macho Man bildete »Blutsschwester und Blutsbrüder« den zweiten Teil des Laufer Theatersommers am Samstagabend, während das Märchen Rapunzel am Sonntag diese Kulturreihe der Gemeinde Lauf beschloss.
Mit lautem Gesang kommen sie auf die Bühne. Der Pfarrer und der Postbote, Frau Schütze und Frau Horchle, allesamt als Figuren, auch der uniformierte Gauleiter mit dem unheilvollen Hakenkreuz am Arm. Überdimensional große Figuren symbolisieren die Erwachsenenwelt, starr und unbeweglich. Einzig die Ohren können schon mal kräftig wackeln, der Arm des Kriegsheimkehrers oder der Adamsapfel am Hals des dicken Pfarrers.
Marthe aber ist quicklebendig und mit ihr die Freundin Hannah. Mit Franz, dem Sohn des Gauleiters Wolf, verbindet sie eine dicke Freundschaft und mit Rudi, dessen Herkunft einer flüchtigen Nacht mit dem Herrn Wolf geschuldet ist. Sie werden zu Blutsschwestern und Blutsbrüdern. Nicht einfach ist ihre Kindheit. Die Welt der Erwachsenen können sie nicht verstehen. Sie macht ihnen Angst. Jean, der französische Kriegsgefangene ist ihr Freund, nach ihm benennt Franz sein Kaninchen. Eine Freundschaft, die dem »Franzos’« fast das Leben kostet, obwohl er kurz davor die Kinder bei einem Tieffliegerangriff beschützt hat. Gauleiter Wolf zielt auf ihn, den »Verräter«, die Kinder schauen zu. Er drückt ab. Die Pistole ist leer.
Alle Schuld der Welt
Die Szene, der junge Franz (Benjamin Wendel), weinend im Stall sitzend und alle Schuld der Welt auf sich ladend, den frühen Tod der Mutter, die geplante Erschießung seines Freundes Jean, den Hunger, den Krieg, sie symbolisiert in unglaublicher Kraft die Welt der Kriegskinder. Marthe (Marie Wullième), die Arm und Bein des verletzten Vaters gesund pusten will. Hannah (Sylvie Kristin Reimer), die glaubt, an ihrer ersten Monatsblutung sterben zu müssen und Rudi, der einen Weg gefunden hat, die Klippen zu umsteuern, durch Witz und Humor. Und später durch Beat und Rock ‘n’ Roll. Ja, die Musik. Sie hilft. Der Krieg ist vorbei. Der Hunger bleibt, wie die Verletzung an Geist und Seele. Und während der Gauleiter zum Bankdirektor wird, entdecken die Kinder die Welt, die Liebe, die Musik. Ein großartiges Stück erzählter Zeitgeschichte. »Geschichten für das Nichtvergessen«, die manchmal erstarren lassen, die berühren und die aufzeigen, wie Schweres zu bewältigen ist. Oder zu verdrängen? Großartige Schauspieler, ein rollendes Bühnenbild. Musik, die anfangs für Gänsehaut, später für Erlösung sorgt. Eine gelebte Geschichte, die auch glückliche Momente in sich birgt. Diese werfen, wie leuchtende Glühwürmchen, Lichtmomente auf die schattenvolle Vergangenheit.