Strategie soll Kiesabbau in Rheinau künftig regeln
Rheinau. Wie kaum eine andere Stadt in Baden-Württemberg lebt Rheinau vom Kiesabbau. An bis vor Kurzem vier Standorten mit insgesamt 195 Hektar Abbaufläche fördern Kieswerkbetreiber den vor allem in der Bauindustrie begehrten Rohstoff - in Freistett, Diersheim, Helmlingen und bis Ende 2022 in Honau. Was für den Rheinauer Stadtsäckel ein Segen ist, betrachten nicht zuletzt Naturschützer und Landwirte angesichts des damit verbundenen Flächenfraßes zunehmend mit Sorge.
Jüngste Proteste gegen weitere Kieswerkerweiterungen sind mit ein Grund, warum die Stadtverwaltung und der Gemeinderat nun einen professionellen Leitfaden erarbeiten wollen, um dem weiteren Abbau gerade auch unter Naturschutzaspekten stärker Rechnung zu tragen. Die Umsetzung dieses bis ins Frühjahr 2024 veranschlagten Prozesses dürfte somit auch den neuen Bürgermeister maßgeblich beschäftigen. Das Ziel: eine transparente Strategie, die für mehr Akzeptanz in der Bevölkerung sorgen soll.
„Zweite Gewerbesteuer“
Zunächst ein Blick auf das Finanzielle: Rund 1,5 Millionen Euro netto erzielt Rheinau jährlich an Kiespachteinnahmen. Stadtkämmerer Uwe Beck spricht hier gerne von einer „zweiten Gewerbesteuer“, entspricht dieser Betrag doch ziemlich genau dem, was die Stadt an Gewerbesteuereinnahmen abzüglich des Finanzausgleichs für sich vereinnahmt. „Die Kiespacht ist in Verhältnis zu den Gewerbesteuereinnahmen der Stadt bedeutend“, konstatiert Beck, ohne sich in seiner Funktion als Stadtkämmerer bei der näheren Bedeutung dieser Einnahmenquelle aus dem Fenster lehnen zu wollen.
Abbau weit profitabler
Was die Stadt Rheinau auf besagter 195 Hektar-Fläche alternativ erwirtschaften könnte, rechnete Beck dem Gemeinderat Ende September vor: Mit Forstwirtschaft könnte sie - theoretisch - jährlich gerade einmal 6000 Euro erwirtschaften und auf landwirtschaftlicher Fläche immerhin 34.000 Euro - gegenüber 1,65 Millionen Euro brutto Kiespachteinnahmen. Als Stadt mit einer lagebedingt unterdurchschnittlichen Steuerkraft sei diese Pacht daher umso wichtiger. „Trotz unterdurchschnittlicher Steuerkraft erhebt die Stadt Rheinau seit Jahrzehnten unterdurchschnittliche Abgabensätze“, so Beck damals. Dies mache nur die Kies-
pacht möglich, die einen Finanzierungsanteil von 15 bis 25 Prozent am Rheinauer Haushalt habe.
Kritiker des ungezügelten Kiesabbaus gibt es in allen betroffenen Rheinauer Stadtteilen. Dass ihre Sorgen nicht von der Hand zu weisen sind, zeigt der „Fall Helmlingen“: Mit dem Argument, dass es in Kürze schließen müsse, wenn es nicht im benachbarten Gewann Gayling einen separaten Baggersee aufreißen dürfe, hatte vor rund zehn Jahren das Edelsplitt- und Rheinkieswerk Helmlingen intensiv für seine erweiterten Kiesabbaupläne geworben. Als unverhältnismäßig hoch kritisierten damals Naturschützer und Landwirte das Vorhaben - eine Einschätzung, der sich später Regierungspräsidium und Regionalverband anschlossen.
Brisant: Wenig später wurde bekannt, dass im bestehenden See wohl noch rund 2,9 Millionen Kubikmeter Kies und Sand schlummern, die technisch wider Erwarten abbaufähig sind, wie eine vom Betreiber mit geologischen Untersuchungen beauftragte Fachfirma herausfand. Da das Unternehmen laut Gemeinderatsbeschluss von 2022 zudem sein 4,6 Hektar großes Kieswerkgelände auskiesen darf, ist auch hier der Abbau noch auf Jahre hinaus gesichert.
An den Standorten Frei-stett und Diersheim kritisieren Gegner die teils für eine Erweiterung nötige Rodung von Rheinauenwald. Die an anderer Stelle vorgesehene Aufforstung sei kein gleichwertiger Ersatz.
Strategie soll her
Für eine transparentere Entscheidungsfindung rund um die Rohstoffförderung soll nun also der Strategieprozess „Kiesabbau Rheinau“ führen. Das Lichtenauer Planungsbüro Korth Stadtraumstrategien soll die 11.400-Einwohner-Stadt mit dem Büro Internationales Stadtbauatelier aus Stuttgart dabei begleiten. Das beschloss der Gemeinderat Anfang März. Relevant für die Planungsarbeit ist eine Steuerungs- und Projektgruppe, die das Vorhaben intensiv begleiten soll; losgehen soll es schon im Mai.
In einem mindestens einjährigen Prozess soll es neben den Arbeiten mit der Projektgruppe, in der neben Bürgermeister, Gemeinderäten und Planer auch externe Akteure mitwirken dürfen, Veranstaltungen mit dem Gemeinderat und zwei öffentliche Termine für interessierte Bürger geben.
In der zwei bis vier Monate dauernden Startphase sollen bis Sommer die ersten Ortsbegehungen stattfinden, die Projektgruppe festgelegt, Unterlagen gesichtet und in den Analyseteil eingestiegen werden. Bis November sollen unterschiedliche Szenarien entwickelt werden, ein Workshop mit dem Gemeinderat und Gespräche mit relevanten Akteuren wie Kieswerksbetreiber und Naturschutzbehörden stattfinden sowie die Erkenntnisse zusammengefasst werden. Konkrete Lösungsvorschläge sollen bis März 2024 erarbeitet werden, bevor alle Erkenntnisse, Szenarien und Analysen rund einen Monat später in ein strategisches Entwicklungskonzept zusammengefasst werden sollen.
Noch viel Kies zu fördern
Auch wenn der Kiesabbau beständig abnimmt, gibt es an den bestehenden Standorten noch viel zu fördern. In Freistett sind es rund 7,5 Millionen Kubikmeter Kies bis 2040, in Diersheim 2,4 Millionen Kubikmeter bis 2047 und in Helmlingen 3,3 Millionen Kubikmeter bis 2040, vorausgesetzt die Genehmigungsbehörden spielen mit. Diese Zahlen und Zeithorizonte nannte Kämmerer Beck im September im Gemeinderat.
Doch damit nicht genug: Auf einem 28 Hektar großen und im Regionalplan enthaltenen Areal Maiwaldwiesen werden rund 10,5 Millionen Kubikmeter abbaufähiger Kies vermutet.
Auf einer weiteren, 42,5 Hektar großen Fläche namens Menzbühnd, ebenfalls auf Freistetter Gemarkung, sind es gar 19,7 Millionen Kubikmeter. Ob hier aber jemals der Rohstoff gefördert wird, ist aus heutiger Sicht noch völlig offen.⇒bru