Anneliese Waag ist eine Zeugin der Kehler Geschichte
Im Jahr, als Anneliese Waag geboren wird, verschärft sich in der Weimarer Republik gerade die Geldentwertung so sehr, dass im Dezember in der Hauptstadt Berlin ein Ei etwa 320 Milliarden Reichsmark kostet. 1923, im Jahr der Hyperinflation, kommt Waag unter ihrem Mädchennamen Kleinlogel in der Kasernenstraße in Kehl zur Welt, im Haus der Großmutter. Dort wohnt die Familie aber nicht allzu lange: »Als ich sechs Jahre alt war, sind wir in den Hafen runter, weil mein Vater bei Trick-Zellstoff geschafft hat.« Eines der Arbeiterwohnhäuser auf dem Gelände der Zellulosefabrik ist fortan das Zuhause der Familie: »Wir haben da alles Mögliche gespielt, das war wirklich schön, Ball gespielt, gekickt – und ohne dass man Angst haben musste, dass ein Auto kommt, denn in das [Tricksche] Gelände durfte ja keiner einfach rein.« Die Lebensverhältnisse sind mit einem Arbeiterlohn sehr bescheiden, erinnert sich Waag an ihre Kindheit: »Wir haben einen Volksempfänger gehabt mit Müh und Not. Damals gab es noch kein Kindergeld, gar nichts. 69 Pfennig Stundenlohn bekam mein Vater – mit drei Kindern.« Ohne die Zuweisungen eines Sozialstaates wie der Bundesrepublik fällt es nicht leicht, eine Familie so zu ernähren: »27 Pfennig kostete ein Pfünder Weißbrot und ein großes Schwarzbrot 60 Pfennig – wir haben keine großen Sprünge machen können, aber wir haben ein liebes Elternhaus gehabt und sind immer satt geworden.« Für eine weiterführende Schule reicht das Geld aber natürlich nicht: »Damals musste man noch bezahlen, wenn man aufs Gymnasium wollte.«
Weiter Schulweg
So besucht Anneliese Waag wie die allermeisten Altersgenossen ihrer Generation acht Jahre lang die Volksschule. Vom Trickschen Firmengelände bis zur Falkenhausenschule ist es ein weiter Schulweg, der Bahnübergang stellt eines der ersten Hindernisse dar: »Manchmal musste man warten, da haben wir Angst gehabt, wir kommen zu spät in die Schule, wenn dann so ein Güterzug gekommen ist und die Wagen abgestoßen hat.« Die Angst ist begründet, denn zur damaligen Zeit herrscht noch ein anderes Klima in den Klassenräumen: »Da ist der Stock immer auf dem Pult gelegen. Eine Schülerin haben wir gehabt, die hat jeden Tag ihre Prügel bekommen, immer auf den Buckel – jeden Tag. Die hat sich gar nicht getraut, etwas zu sagen.« Lieblingsfächer haben die Schüler auch damals, allerdings heißen sie anders: »Sprachlehre und Rechnen hab‘ ich gerngehabt, Rechnen – heute ist es ja Mathe, aber das war noch kein Mathe damals«, stellt Anneliese Waag lachend fest. Allerdings werden in der Erinnerung auch hier Unterschiede deutlich, denn ein Fach wie »Schönschreiben« existiert in unserer Gegenwart längst nicht mehr: »Damals musste man noch schönschreiben, und da hat der Lehrer Weis zu mir gesagt: ›Wenn du bis an Ostern so schön schreibst, kriegst du eine Eins. Und was hab‘ ich bekommen: eine Drei – weil die Sütterlinschrift eingeführt worden ist.« Die Umstellung mag umständlich gewesen sein; wer in der damaligen Zeit allerdings Linkshänder ist, denn trifft es besonders hart, denn mit links zu schreiben, gilt als Makel, den es mit strenger Umerziehung zu beheben gilt: »Und in der Handarbeit, beim Nähen war das schrecklich, aber die Linkshänder mussten mit rechts arbeiten.«
Kehler Synagoge
Anneliese Waag ist auch eine der letzten Kehler Zeitzeuginnen, die sich an die jüdische Gemeinde Kehls erinnert. Nicht weit von ihrem Geburtshaus in der Kasernenstraße steht bis zu ihrem Abriss im Jahr 1939 die Synagoge und schräg gegenüber liegt die jüdische Metzgerei Wertheimer: »Da haben wir auch immer unser Suppenfleisch geholt. Mein Vater war ein Ausbilder im [Ersten Welt-] Krieg bei den Soldaten von dem Siegfried Wertheimer. Da sind wir dann jeden Samstag hin.«
An der Falkenhausenschule unterrichtet noch der jüdische Lehrer Lazarus Mannheimer, der auch Kantor der jüdischen Gemeinde Kehls ist: »In der dritten Klasse war Lazarus Mannheimer mein Klassenlehrer. Durch die Gänge ist er manchmal gelaufen und hat seine Predigt vor sich hingesagt. Wir Kinder haben natürlich kein Wort verstanden, aber da hat er bestimmt seine Predigt gelernt.« Auf einem alten Klassenfoto aus der zweiten Klasse kann Anneliese Waag neben sämtlichen ihrer Mitschülerinnen auch Martha Bodenheimer identifizieren, die später wie ihre Eltern in Auschwitz-Birkenau ermordet wird.
"Man kauft nicht beim Juden"
Die Anfänge der nationalsozialistischen Verfolgung im »Dritten Reich« sind Waag noch sehr präsent, angefangen mit dem Boykott jüdischer Geschäfte, auch vor der Metzgerei Wertheimer: »Damals ist ja die SS davor gestanden: ›Man kauft nicht beim Juden!‹ – und mein Vater ist eben trotzdem rein – da hat man ja Angst gehabt, ob das nicht noch ein Nachspiel hat, aber es ist nichts gekommen.« Auch die Misshandlung der männlichen Juden am 10. November 1938, derer sie als Jugendliche Zeugin wird, hat sie nicht vergessen: »Schrecklich war das, als sie die Juden durch die Stadt getrieben und in der Stadthalle unten angekettet haben. Und da waren zwei Zuschauerinnen, die haben sich so gefreut, die haben sich die Hände gerieben und mir sind die Tränen gekommen.« Unter den jüdischen Männern, die damals in unbeschreiblicher Weise misshandelt werden, befindet sich auch Lazarus Mannheimer. Das gleiche Schicksal erleiden auch die Juden aus den anderen Gemeinden des Hanauerlandes, die am selben Tag ebenfalls noch nach Kehl transportiert werden. »Ich sehe den einen, das war ein Viehhändler noch … und die SS ist hinter den Menschen her… also das war schrecklich. Nein, da gibt es nichts zu leugnen.«
◼ Anneliese Waag ist eine von 80 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die auf der Hörcollage »Kindheit und Jugend 1919 bis 1938 – Kehl erinnert sich« zu hören sind. Die vierteilige CD-Box entstand aus einem Projekt der Zeitzeugen-AG des Einstein-Gymnasiums Kehl und ist in der Buchhandlung Baumgärtner und im Hanauer Museum für 10 Euro erhältlich.