Brückenposten töten Matrosen
Kehl in der Weimarer Republik zeigt die aktuelle Ausstellung im Hanauer Museum. Die „Goldenen Zwanziger“ liefern manche Schlagzeile – auch in Kehl, die wir in loser Folge Revue passieren lassen. Die Schlagzeile, mit der unser Zeitungsjunge heute wirbt, lautet: Schüsse an der Kinzigbrücke.
Die Novemberrevolution 1918 macht vor Kehl nicht Halt. Zu einem verhängnisvollen Tag wird der 9. November.
Mathias Nückles V., der im Büro der „elektrischen Zentrale“ im Kehler Hafen arbeitet, Nebenerwerbslandwirt ist und seine Erlebnisse akribisch aufzeichnet, schildert in seinem Tagebuch, wie auf dem großen Exerzierhof der Pionierkaserne schon Geschütz an Geschütz steht und immer noch mehr herbeigebracht werden, weil seit dem Vortag „die Unsrigen die Festung Straßburg räumen“.
Revolution und Tagebuch-Einträge (vertont) sind Teil der momentanen Ausstellung „Goldene Zwanziger? Kehl in der Weimarer Republik“, die im Hanauer Museum noch bis zum 8. Dezember zu sehen ist.
Mit einiger Ironie verfolgt Mathias Nückles den Beginn der Revolution: „O Jammer – Wilhelm der Unschuldige will scheint’s immer noch nicht abdanken, sie müssen ihm noch stärker mit dem Holzschlegel winken.“ Es ist Samstag, der 9. November 1918, der Schicksalstag, der Kehl in die Schlagzeilen bringt.
In dem Buch „Die Stunde der Matrosen – Kiel und die deutsche Revolution 1918“, herausgegeben 2018 von Sonja Kinzler und Doris Tillmann anlässlich „100 Jahre Kieler Matrosenaufstand“, wird das Ereignis so beschrieben: „In Kehl blockierte ein Posten eine Brücke auf der Strecke nach Straßburg. Er beschoss am 9.11. einen Zug und tötete einen Matrosen.“
Erwähnt wird der Zwischenfall im Kapitel über die Verbreitung der Revolution durch die Kieler Marinesoldaten.
Mathias Nückles schildert den Vorfall an diesem 9. November, wie an der Kinzigbrücke der Bataillonskommandeur der „hiesigen Pioniere ein paar Mann mit Maschinengewehren postiert“. Diese beginnen zu feuern, als der Zug die Brücke passieren will. „Die Lokomotive ist total zerschossen, einer der Ankommenden (ein Marinesoldat) ist getötet, ein paar andere schwerer oder leichter verwundet“, ist im Tagebuch zu lesen.
Der Marinesoldat ist zusammen mit anderen Vertretern des Arbeiter- und Soldatenrates (aus Kiel, d. Red.) von Appenweier kommend im Zug Richtung Straßburg unterwegs gewesen. „Gute Nacht, Pioniere, das wird was geben!“, schreibt Nückles.
Später erfährt er, dass Hauptmann Ludwig Schmidt, der Schwiegersohn des Kehler Zellstofffabrikanten Ludwig Trick, der Anstifter des Blutbades gewesen sein soll. „Er wird es wohl büßen müssen, denn die Zeiten der Herrsch- und Willkür dieses Mannes sind vorbei“, endet dieser Tagebucheintrag.
„Noch in der Nacht vom 9. auf den 10. November übernehmen in der Kehler Kaserne Soldatenräte die Macht und bilden zusammen mit hiesigen Arbeitern den Volksrat“, beschreibt Museumsleiterin und Stadtarchivarin Ute Scherb die damalige Situation.
Mathias Nückles erfährt davon bei seiner Fahrt „in den Dienst“ – obwohl Sonntag ist – am Morgen des 10. November. „Sämtliche Offiziere sind entwaffnet“, notiert er. „Die Sache ist mit der größten Ruhe vor sich gegangen. Wie ich höre, wurden der Großherzogliche-Amtsvorstand, Geheimrat Dr. Holderer, Bürgermeister Dr. Weis und der Herr Hauptmann Schmidt aus den Betten heraus von den Soldaten verhaftet und zur Kaserne verbracht, wo sie dann durch ihre Unterschrift den Arbeiter- und Soldatenrat anerkannten, worauf man sie wieder entließ.“ Der Bataillonskommandeur dagegen sitze fest.
An jenem geschichtsträchtigen 9. November 1918 hat in Karlsruhe der Matrose Hermann Scheer eine Rede auf dem Rathausbalkon gehalten, ist dem Buch zum Kieler Matrosenaufstand zu entnehmen. Er ist demnach per Bahn von Wilhelmshaven über Bremen, Hannover und Frankfurt am Main in seine Heimatstadt gereist.
Ohnehin findet laut den Buchautoren die Ausbreitung der Umsturzbewegung vor allem per Eisenbahn statt. Für diese Publikation können Thesen und Ergebnisse aus Literaturrecherchen und aus den Antworten von 95 größeren deutschen Stadtarchiven sowie einzelnen Archiven damals deutscher Städte wie Straßburg, Danzig oder Königsberg verwendet werden, die sich fast alle auf eine Anfrage des Kieler Stadtarchivs zurückgemeldet haben.
„Militär-Leiche“
Während am 11. November 1918 die Unterzeichnung des Waffenstillstandes im Wald von Compiègne (nördlich von Paris) den am 28. Juni 1914 ausgelösten Ersten Weltkrieg beendet, liegt in Kehl an jenem Montag „die Leiche“ des am Samstag an der Kinzigbrücke erschossenen Marinesoldaten.
Mathias Nückles beschreibt die „Militär-Leiche“: „Hinter dem Sarg geht der Soldatenrat, hierauf kommt eine Abteilung Pioniere mit Gewehr, alle rote Bänder. Voraus ein Fahnenträger mit roter Fahne, die beiden Begleiter rote Schürzen um die Brust.“ Nückles zählt weitere Teilnehmer auf: die Urheber des Anschlags auf den Zug, in der Mitte Major Theuer, links von ihm der Leutnant, der die Maschinengewehr-Abteilung kommandiert hat, rechts Hauptmann Schmidt in Zivil, „alle drei bleich wie Leintücher“.
Einer Abteilung Pioniere mit Gewehr folgen „die Kameraden des Ermordeten“, Infanteristen, Pioniere, Jäger, „alles bunt durcheinandergemischt und mit roten Bändern verziert“, bemerkt Nückles. „Von Zeit zu Zeit trägt auch ein Soldat einen Kranz.“
Den ganzen Oktober 1918 hindurch gibt es von deutscher Seite Bemühungen um einen Waffenstillstand. Dennoch erhält die Marine am 24. Oktober den Befehl, auszulaufen und gegen die Engländer eine letzte Schlacht im Ärmelkanal zu schlagen.
Die Matrosen meutern, wollen nicht sinnlos geopfert werden. Sie sind überzeugt, im Sinne der neuen Regierung unter Max von Baden zu handeln, die ja den Frieden anstrebt. Sie verweigern den Befehl. Einige Marinesoldaten werden verhaftet. Andere demonstrieren in Kiel und fordern die Freilassung ihrer Kameraden. Das Militär geht gewaltsam gegen die Aufständischen vor. Es werden Matrosen getötet und verletzt.
„Oh, grauenvolle Zukunft!“, kommentiert das Mathias Nückles in seinem Tagebuch.
Aus dem Aufstand der Matrosen wird ein allgemeiner Aufstand. Am Abend des 4. November 1918 ist Kiel in der Hand von etwa 40 000 Matrosen, Soldaten und Arbeitern.
Nach Kiel werden in zahlreichen weiteren Städten Arbeiter- und Soldatenräte gegründet, bis die Revolution am 9. November Berlin erreicht. Am 10. November, einen Tag später als in Berlin, bildet sich in Straßburg ein Arbeiter- und Soldatenrat, der auf dem Kléberplatz die Republik ausruft.
Die Tätigkeit des in der Nacht zum 10. November 1918 in Kehl gebildeten Volksrates endet als politisches Entscheidungsorgan, als am 29. Januar 1919 die Franzosen in Kehl einmarschieren.