Ganztagesbetreuung: "Bedarfsgerecht für Kehl"

(Bild 1/3) Der Betreuungsraum in der Tulla-Realschule ist täglich von 7 bis 16 Uhr geöffnet und für die Schüler Rückzugsmöglichkeit, Spiel- und Lernbereich. Jugend- und Heimerzieher Andreas Martzloff betreut die Schüler im Auftrag der Stadt Kehl. ©Daniel Wunsch
Bereits seit knapp zehn Jahren betreibt die Tulla-Realschule in Kehl eine vollgebundene Ganztagsschule – vermutlich die einzige in Baden-Württemberg. Auch die »Tulla« hatte zu Beginn vor Problemen gestanden, die sie jedoch auf unterschiedlichste Weise gelöst hat.
»Mit Interesse haben wir heute den Artikel Ganztags ein Flickenteppich auf der Seite 2 der Kehler Zeitung gelesen«, schreibt Erik Sander am 29. April per Mail an die Redaktion. »Wir haben dabei schon etwas gelacht – viele der zum Teil berechtigten Kritikpunkte kennen wir nur allzu gut, wir betreiben ja seit fast zehn Jahren eine vollgebundene Ganztagesschule – die vermutlich immer noch einzige in Baden-Württemberg.«
Weiter erklärt der Konrektor der Tulla-Realschule in Kehl: »Auch wir haben in unserer ›Entwicklungsgeschichte‹ vor vielen der beschriebenen Problemen gestanden und haben mit den unterschiedlichsten Konzepten darauf reagiert.« Vor vier Jahren habe die Schule schließlich eine einzigartige Lösung »Tulla – bedarfsgerecht für Kehl« gefunden, erklärt Sander nicht ohne Stolz. Auch Rektorin Barbara Künzer denkt mit gemischten Gefühlen zurück an die Anfangsjahre (siehe Hintergrund), als diese neue Schulform (Aufbau von Ganztagesschulen in Deutschland) mit bis zu fünf Milliarden Euro (2003 – 2009) von der Bundesregierung gefördert wurde.
Zahlreiche Baustellen
Denn wie im Artikel beschrieben und durch eine vergleichende Analyse der Bertelsmann-Stiftung belegt, gibt es immer noch zahlreiche »Baustellen« bei der bundesweiten Umsetzung, die Erwartungen an Ganztagesschulen konnten bislang noch nicht überall erfüllt werden: Gleiche Lernchancen für alle, mehr Zeit für die Förderung einzelner Kinder oder willkommene Hilfestellung für berufstätige Eltern – die einzelnen Bundesländer gehen dabei unterschiedlich mit Lernzeiten und Lehrerausstattungen vor. Hier sei Deutschland ein »Flickenteppich«, bilanzierte die Stiftung.
Ein Beispiel: Während eine Ganztagesschule für hessische Schüler bis zu 22 Extra-Wochenstunden bedeutet, sind es in vielen ostdeutschen Ländern ganze vier. An der Tulla-Realschule sind es sogar nur zwei Stunden pro Klasse und Woche, die für die Ganztagesbetreuung zur Verfügung gestellt werden. Die einzige Lösung: Ein erhöhtes Engagement aller Lehrkräfte, was sich vor allem auf die Arbeitszeit auswirke, so Sander. »Hier würden wir uns natürlich wünschen, dass mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden«, hofft Sander mit einem Schmunzeln im Hinblick auf die neue Landesregierung.
Durch eine neuartige Zeitstruktur hat es die Tulla-Realschule jedoch seit dem Schuljahr 2012/13 geschafft, weitere Kritikpunkte der Studie zur Ganztagesbetreuung in Deutschland auf besondere Weise zu lösen: Kern des Tages ist hierbei eine 40-minütige Lernzeit am Ende des Vormittags, in der selbstorganisatorisches Lernen oder Hausaufgabenmachen im Klassenverband unter Aufsicht von Lehrkräften möglich sind. Diese gewährleisten somit im Vergleich zu älteren Schülern oder Eltern, die diese Betreuung früher erledigt haben, eine deutlich höhere Qualität der Betreuung. Damit sei das Ganztagessystem an der »Tulla« kein bloßes »Verwahren der Kinder nach dem Mittagessen«, was der Betreuung häufig in anderen Schulen vorgeworfen wird. Um diese Lernzeit zeitlich zu ermöglichen, hat die Schule parallel die Rhythmisierung geändert und die »klassischen 45er-Schulstunden« abgeschafft und durch 70-minütige Einheiten (19 Einheiten pro Woche und Klasse) ersetzt sowie auch längere Pausen eingeführt.
Die Vorteile: »Es finden nur noch vier Fächer pro Tag statt – eine spürbarere Entzerrung des Unterrichtsalltags. Die Vor- und Nachbereitung, zum Beispiel der Hausaufgaben, werden überschaubarer – dadurch wird die Schultasche leichter«, berichten die beiden Schulrektoren über ein weiteres Alleinstellungsmerkmal ihrer Schule. Im so genannten Schulplaner wird die Anwesenheit der Schüler täglich mit einem Stempel testiert.
Freiwillige Betreuung
Im Anschluss an eine Mittagseinheit endet der Pflichtbereich um 14.35 Uhr. Danach beginnt die freiwillige Betreuung, die ohne Anmeldung und Kosten genutzt werden kann. Betreut werden die Schüler dabei bis 16 Uhr von zwei Jugendheimerziehern, einer FSJ-Kraft, sowie einem Schulsozialarbeiter – genügend Zeit danach also, sich um die Hobbys zu kümmern. Dies gefällt auch den Eltern, was eine Blitzumfrage vor knapp drei Jahren ergab. Damals haben rund 69 Prozent das neue Lernzeitmodell positiv bewertet. »Heute fallen die Rückmeldungen sogar noch positiver aus«, freut sich Sander.
Der Weg der »Tulla« zur Realschule mit ganztägiger Betreuung
Schuljahr 2001/02: Architektenwettbewerb zum Neubau der Tulla-Realschule als »klassische« Realschule.
2002/03: Baubeginn mit Verzögerungen. Rund 700 Eltern und Schüler demonstrieren Anfang 2003 vor dem Rathaus und fordern einen sofortigen Baubeginn.
2003/04: Auf Initiative der Stadt formuliert die Realschule ein Ganztageskonzept. Die Stadt Kehl stellt einen Antrag auf Mittel aus dem IZBB (Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung) und verfügt einen Baustopp, um gegebenenfalls einen veränderten Baubedarf berücksichtigen zu können.
2004/05: Genehmigung des IZBB-Antrags. 90 Prozent der Bausumme (rund 10,5 Mio. Euro) werden aus Bundesmitteln finanziert, Mensa und Aufstockung des Nordflügels werden geplant.
2005/06: Die Fertigstellung des Baus verzögert sich durch Firmeninsolvenzen.
2006/07: Einzug in ein Gebäude (April 2006), das zum Teil noch Baustelle ist. Aufnahme des Ganztagesbetriebs (8 Std. Montag, Dienstag, Donnerstag und 5 Std. Mittwoch und Freitag).
2007/08: Fertigstellung der KT-Halle für den Schulsport.
2008/09: Start mit dem neuen Ganztageskonzept mit vier Ganztagen (Baden-Württemberg-Modell).
2009/10: Genehmigung des Landesmodells. Die »Tulla« hat damit Anrecht auf zwei Lehrerwochenstunden pro Klasse zusätzlich. Verabschiedung des Leitbilds, zudem arbeitet eine FSJ-Kraft im Betreuungsbereich.
2010/11: Das Kleinspielfeld bei der Mensa wird genutzt. Große Schäden am Schulgebäude durch Vandalismus. Das Sozialcurriculum »Soziales Lernen« wird verabschiedet.
2011/12: Am Pädagogischen Tag (Februar 2012) wird ein Auftrag zur Weiterentwicklung des Ganztagesmodells verabschiedet. Es entsteht das Lernzeitmodell, das die Schulkonferenz am 10. Juli 2012 verabschiedet. Erhalt einer volle Sozialarbeiter-Stelle.
2012/13: Der Unterricht wird auf das neue Lernzeitmodell umgestellt. Die Schulsozialarbeiterin nimmt ihre Arbeit auf.