Gedenken an die Reichspogromnacht vor 80 Jahren
Zu den schlimmste Auswüchsen des Nazi-Terrors in Deutschland gehört die Reichspogromnacht. Genau 80 Jahre her ist dieses Ereignis am heutigen Freitag. Ein Vortrag und eine Filmdokumentation haben im Zedernsaal der Stadthalle das Kehler Geschehen in der Reichspogromnacht auf beklemmende Weise deutlich gemacht.
Die Juden aus Kehl waren »in unbeschreiblicher Weise misshandelt und verletzt«, hat ein Polizeibeamter ausgesagt, der am 10. November 1938 in Appenweier eingesetzt war, als dort Kehler Juden in einen Zug aus Offenburg nach Dachau »verfrachtet« wurden. Für sie endete so die Reichspogromnacht, früher verharmlosend Reichskristallnacht genannt, in Erinnerung an Kristallsplitter vor zerstörten Synagogen.
Friedrich Peter referierte
Was dem Abtransport nach Dachau in Kehl vorausgegangen war, darüber referierte Friedrich Peter am Dienstag im Zedernsaal der Stadthalle auf Einladung des Arbeitskreises »27. Januar«, dem die evangelische und die katholische Kirchengemeinde, der Historische Verein Kehl und die Stadt Kehl angehören.Friedrich Peter unterscheidet vier Phasen der Judenverfolgung im »Dritten Reich«: Es begann nach der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 mit einem Boykott jüdischer Geschäfte und der Verdrängung der jüdischen Bevölkerung aus dem öffentlichen Leben. Mit den Nürnberger Rassegesetzen wurden die Juden 1936 rechtlos gestellt.
Schmerzlicher Höhepunkt
Mit der Reichspogromnacht am 9./10. November 1938 erreichte die Verfolgung für viele Juden, vor allem jüdische Männer, einen schmerzlichen Höhepunkt. In der vierten und letzten Phase, mit Kriegsbeginn 1939, wurde Juden fast jede Erwerbstätigkeit untersagt. Wer nicht mehr in einen sicheren Drittstaat entkommen oder sich verstecken konnte, wurde Opfer der Massenvernichtung in Konzentrationslagern.
Vortrag und Filmdokumentation machten am Dienstag das Kehler Geschehen in der Reichspogromnacht beklemmend deutlich. Was offiziell als Folge des »Volkszorns« ausgegeben wurde (Kehler Zeitung vom 11. November 1938), als Reaktion auf das Attentat eines polnischen Staatsbürgers jüdischen Glaubens auf einen deutschen Diplomaten in Paris, war in Wahrheit von oben angeordnet: Dem Kehler Gestapochef Julius Gehrum wurden am 10. November 1938 um 3 Uhr früh von der übergeordneten Gestapoleitstelle in Karlsruhe »Maßnahmen gegen Juden« befohlen, darunter die Zerstörung der Geschäfte und Wohnungen von Juden, die Beschlagnahme von Wertgegenständen und Geld und die Festnahme aller männlichen Juden von 16 bis 60 Jahren.
Befehl am frühen Morgen
Um 5.30 Uhr war Befehlsausgabe im Rathaus. Es wurden mehrere Kommandogruppen gebildet, bestehend aus einem Gestapomann, zwei SS-Männern und einem Polizeibeamten. Sie hatten den Auftrag, die auf einer Namensliste verzeichneten jüdischen Männer zu verhaften. Eine Zeitzeugin berichtet in der Filmdokumentation: Ein Mitglied der jüdischen Gemeinde, Max Bensinger, habe im Haus ihrer Eltern in einem möblierten Zimmer gewohnt. »Als die SS kam und den Mann die Treppe heruntergeworfen hat, war ich daneben gestanden und hab ’s miterlebt. Das vergisst man nimmer.«
Andere erinnern sich daran, dass morgens schulfrei gegeben wurde, es sei etwas mit den Juden. Auf dem Weg durch die Stadt beobachteten sie, dass die verhafteten Juden durch die Straßen getrieben und geschlagen wurden.
Geprügelt und getreten
Ziel war zunächst die Villa Fingado, das Haus der Gestapo, am Schnittpunkt Hermann-Dietrich-Straße/Ludwig-Trick-Straße. Nach Einzelverhören dort ging es im Laufschritt zur alten Stadthalle in der Jahnstraße. Wer nicht mithalten konnte, wurde geprügelt und getreten. Im Keller der Stadthalle hat man die Juden schreien hören, das war furchtbar, berichtet eine Zeitzeugin.
Gegen Abend wurden die Juden zum Bahnhof gebracht. »Wer Nazi war, war auf den Beinen«, wird berichtet. Jetzt begleiteten auch Mitglieder des Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps die Gefangenen. Unterwegs mussten die Gefangenen Sprechchöre rufen wie »Wir sind die Kriegstreiber«, erinnert sich ein Zeitzeuge. Am Bahnhof wurden sie in Güterwagen »verladen«, das Ziel war Dachau. Nach einigen Wochen wurde sie entlassen, Begüterte mussten sich freikaufen.
Die Schreckensbilanz
Die Bilanz nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Gewaltherrschaft: Hatten 1933 in Kehl noch 109 jüdische Bürger gelebt, so waren es 1940 noch 20. Sie wurden am 22. Oktober 1940 in das Internierungslager Gurs in Südfrankreich deportiert. Einige kamen später in Konzentrationslagern um. 38 Kehler Juden überlebten den Holocaust nicht.
Der Referent verwendete in seiner Darstellung Ausschnitte aus der Filmdokumentation einer Projektgruppe des Einstein-Gymnasiums, die unter der Leitung von Lehrer Uli Hillenbrand Kehler Zeitzeugen befragt hat. Die Doku ist im Wettbewerb »Erinnerung sichtbar machen« mit einem Preis ausgezeichnet worden (Kehler Zeitung vom 7. November), und die Projektgruppe ist daraufhin kurzfristig zur Präsentation ihres Projekts nach Berlin eingeladen worden.