Kehlerin befürchtet: Werden die Weltkriegs-Toten vergessen?

(Bild 1/3) Unter diesem Blumentrog am Ehrenmal auf dem städtischen Friedhof ist die Kupferkassette mit der Liste der 719 Weltkriegs-Toten und -Vermissten versenkt worden. ©Privat
Mitte Juni 1962 wurde unter starker Anteilnahme der Bevölkerung in einer feierlichen Zeremonie das Ehrenmal für die Kehler Kriegstoten auf dem städtischen Friedhof eingeweiht. 719 Einwohner Kehls hatten im größten Krieg, den die Menschheit bis heute erlebt hat, den Tod gefunden oder werden vermisst. Auch eine kupferne Kassette wurde in den Boden eingelassen – darin ein Buch mit den Namen aller Gefallenen oder Vermissten.
Auch der Name von Karl Schütterle steht in diesem Buch. Der junge Soldat der 7. Kompanie des Infanterie-Regiments 390 war bei Kriegsausbruch gerade 31 Jahre alt. Am 3. Februar 1942 wurde er an der Ostfront bei Tregubowo bei einem Luftangriff durch einen Kopfschuss tödlich verletzt. Wo seine Gebeine liegen, ist unbekannt, so die Auskunft der Deutschen Dienststelle (ehemals Wehrmachtsauskunftsstelle) in Berlin.
Verlogenes Pathos
„In treuester Pflichterfüllung“ habe er „sein Leben für unseren geliebten Führer und sein Vaterland im Kampfe gegen den Bolschewismus geopfert“, wie es in einem Feldpostbrief seines Kompaniechefs an seine Frau Erna heißt. Ilse Eckert sind solche von patriotisch verbrämtem Pathos triefenden Helden-Lobgesänge völlig fremd. Für sie zählt nur, dass ihr der geliebte Vater genommen wurde. Damals war sie gerade mal acht Jahre alt. Sie habe sehr an ihrem Vater gehangen, erzählt sie. „Das tut weh, wenn man so was lesen muss.“
Bei den Gedenkveranstaltungen zum Volkstrauertag ist sie denn auch jedes Jahr dabei. Doch reicht das heute noch aus? Für im KZ ermordete Juden werden Stolpersteine verlegt; für die Toten der ICE-Katastrophe von Eschede 1998 wurde ein Gedenk-Hain angelegt – doch die Toten und Vermissten des Zweiten Weltkriegs geraten immer mehr in Vergessenheit, glaubt sie. Die Kupferkassette, die in den Boden des Ehrenmals unter dem Geranientrog eingelassen ist, soll zwar die Namen der Kehler Kriegstoten „für kommende Geschlechter verwahren“, wie es damals in der Kehler Zeitung zu lesen stand. Doch das sei nicht genug, meint Ilse Eckert. „Ich möchte den Toten einen Namen geben.“ Das tue sie für ihren gefallenen Vater, aber auch für alle anderen Kriegstoten und deren Angehörige. „Das ist mir eine Herzensangelegenheit geworden.“
„Buch der Erinnerung“ als Vorbild
Doch wie kann man das machen? Ihr schwebt eine Art „Buch der Erinnerung“ vor. Ein Beispiel dafür fand sie nach Recherchen im Internet in Oberndorf am Neckar. Die Skulptur wurde am 27. Januar 2007, dem Holocaust-Gedenktag, eingeweiht und erinnert an die 308 Fremdarbeiter, die in den Kriegsjahren von den Nazis gezwungen wurden, unter unmenschlichen Bedingungen in Oberndorf zu arbeiten, und dabei gestorben sind. Die von dem renommierten Rottweiler Künstler Jürgen Knubben gefertigte, etwa mannshohe Skulptur, die in unmittelbarer Nähe zum früheren Arbeitslager „Linde“ steht, sieht tatsächlich wie ein Buch aus, in dem man blättern kann. Die einzelnen „Seiten“ bestehen aus mehreren Metallplatten, auf die die Namen der verstorbenen Zwangsarbeiter eingraviert sind.
Form des Gedenkens auf dem Prüfstand“
Bei der Stadt kann man die Kritik, die Namen der Kehler Kriegstoten könnten in Vergessenheit geratén, nicht wirklich nachvollziehen. Zum einen sind die Namen der im Krieg gestorbenen Soldaten – nach Terminvereinbarung – im Stadtarchiv einsehbar. „Das Stadtarchiv nimmt auch hier seine Aufgabe wahr, das Gedächtnis der Stadt zu sein“, so Pressesprecherin Annette Lipowsky. Gleichwohl sei Gedenken nichts in Stein Gemeißeltes. „Da wir in einer Zeit großer Umbrüche leben, steht gerade heute auch die Form des Gedenkens auf dem Prüfstand“, heißt es weiter. Eine lebendige Erinnerungskultur müsse sich immer an der Gegenwart orientieren.
Das tue die Stadt auch, betont Lipowsky. So arbeitet die Stadt Kehl bereits seit 2021 mit der Zeitzeugen-AG des Einstein-Gymnasiums und ihrem Lehrer Uli Hillenbrand daran, den Ehrenfriedhof so umzugestalten, dass er auch jüngere Menschen als Gedenkstätte anspricht. Die dunklen Hecken im Eingangsbereich wurden durch Blumenhügel ersetzt, sodass die Gedenkstätte einsehbar geworden ist und sich zur Stadt hin öffnet. Außerdem haben die Friedensbotschaften, die die Jugendlichen zum Volkstrauertag 2022 gestaltet haben, im Sommer dort einen dauerhaften Platz gefunden.
Mahnmal für Zwangsarbeiter auch für Kehl
Die Idee aus Oberndorf könnte jedoch in etwas anderem Zusammenhang auch in Kehl ein Echo finden. Laut Lipowsky plant die Stadt, zusammen mit dem „Arbeitskreis 27. Januar“, einen Ort des Gedenkens für die nach Kehl und in die heutigen Ortschaften verschleppten und hier zur Zwangsarbeit gezwungenen Kriegsgefangenen und Zivilisten einzurichten. Dabei habe man sich auch intensiv mit den Gedenkzeichen auseinandergesetzt, die anderswo zur Erinnerung an Zwangsarbeiter errichtet wurden. Das „Buch der Erinnerung“ in Oberndorf gehöre „selbstverständlich“ dazu. Und ähnlich wie dort sei auch in Kehl vorgesehen, das Mahnmal an einem Ort aufzustellen, wo sich im Zweiten Weltkrieg ein „Fremdarbeiterlager“ befand.