Marlenerin arbeitet für Welthungerhilfe in Krisengebieten
Die Marlenerin Jessica Kühnle ist für die Welthungerhilfe in Krisengebieten unterwegs. Sie bekommt die katastrophalen Zuständen an der türkisch-syirischen Grenze hautnah mit.
Jessica Kühnle verleiht von Krisen und Katastrophen betroffenen Menschen eine Stimme, die sonst nicht gehört und gesehen werden. Mit Block, Stift und Kamera zieht die Marlenerin als Chronistin durch Flüchtlingscamps. Oft kann sie – so ausgestattet – das Vertrauen der Insassen erwerben. Die Camp-Bewohner öffnen sich der 32-Jährigen und erzählen von ihren Erlebnissen, von Krieg, Armut und Verfolgung. Das sind oft traumatische Berichte, die nur schwer auszuhalten sind. Doch indem die junge Frau diese Geschichten festhält und weitergibt, kann sie darauf aufmerksam machen, „was es bedeutet, auf der Flucht zu sein“.
Persönliches Risiko
Kühnle arbeitet neben ihrem Katastrophenmanagement-Studium seit 2013 im Presse-Team der Welthungerhilfe. Diese Aufgabe führte sie in die Türkei, Syrien, den Libanon, Irak, nach Bangladesch, Kambodscha und Myanmar - Krisengebiete, in denen humanitäre Hilfe durch Angriffe und Entführungen mitunter auch zum persönlichen Risiko werden kann. Zurzeit ist sie an der türkisch-syrischen Grenze unterwegs. Dort sind seit Kriegsausbruch fast zehn Jahre vergangen, und noch immer hat sich nichts an der katastrophalen Situation geändert. „Die Temperaturen fallen zwar nicht mehr unter Null Grad, dennoch sind die Nächte sehr kalt. In manchen Regionen der Provinzen Idlib und Aleppo sinken die Temperaturen noch immer bis auf vier Grad. Die dünnen Plastikplanen und provisorisch zusammengebastelten Zelte schützen wenig vor Kälte und Regen. Die Camps versinken buchstäblich im Schlamm. Auch Heizöl ist weiterhin knapp, und wenn vorhanden, kaum bezahlbar. Preise sind in den vergangenen Monaten um das 20-fache gestiegen. Deshalb verbrennen die Familien alles was sie finden und entbehren können – Plastik, Schuhe, Kleidung, was aufgrund der giftigen Dämpfe ein enormes Gesundheitsrisiko vor allem für die Kinder darstellt. Es gab bereits Fälle, in denen Familien im Schlaf an einer Kohlendioxidvergiftung gestorben sind“, berichtet die dunkelhaarige Frau, die seit November 2018 in der südanatolischen Stadt Gaziantep, im Grenzgebiet zu Syrien, lebt.
Situation ist nur schwer auszuhalten
Die Situation sei nur schwer auszuhalten, sagt Jessica Kühnle. „Seit Dezember erlebt Syrien die intensivsten Kampfhandlungen und damit verbunden die schlimmste Flüchtlingskatastrophe seit Beginn des Krieges. Derzeit besteht zwar eine Waffenruhe, jedoch ist diese sehr brüchig. Innerhalb von acht Wochen sind fast eine Million Menschen in den Nordwesten Syrien vertrieben worden, darunter mehr als 500 000 Kinder. Die Mehrzahl der Geflüchteten sind bereits mehrmals innerhalb Syriens geflohen. Was die Lage diesmal besonders dramatisch macht ist, dass nun die Grenzen geschlossen sind, die Familien keine sichere Zuflucht in der Türkei oder in einem anderen Nachbarland finden können. Die Menschen stehen buchstäblich mit dem Rücken zur Wand und sind den militärischen Angriffen schutzlos ausgeliefert. Hinzu kommt, dass die Camps in der Region bereits völlig überfüllt sind. Hilfsorganisationen sind am Rand ihrer Kapazitäten, und unsere syrischen Kollegen und deren Familien sind selbst von den Kampfhandlungen betroffen und auf der Flucht in sicherere Gebiete. Wegen der unzureichenden hygienischen Bedingungen in den Camps besteht die Gefahr, dass sich Krankheiten wie Cholera schnell ausbreiten können. Ein Ausbruch des Corona-Virus könnte viele Todesopfer fordern.“
Wenn man soviel Leid tagtäglich erlebt, ist es oft schwer, die journalistische Distanz zu wahren. Das kann Jessica Kühnle bestätigen. „Wann immer ich Familien besuche, die mir ihre verzweifelte Lage schildern, und ich weiß, dass wir diesem Fall nicht helfen können, weil uns zum Beispiel finanzielle Mittel fehlen oder ein Projekt beendet ist, besonders wenn es dabei um das Leid von Kindern oder älteren Menschen geht, die auf Hilfe angewiesen sind - das sind Momente, die man nur schwer aushalten kann. Ich erwische mich immer mal wieder dabei, wie ich an die Familien denke und mich frage, wie es wohl dem kleinen Mädchen mit der schweren Rückenverletzung oder der älteren Dame, die an Krebs leidet, geht.“
Auch schöne Augenblicke
Doch es gibt glücklicherweise auch schöne Augenblicke. „Wann immer ich mit Familien spreche, die sich in einer schlimmen Lage befanden, und diese mir erzählen, dass durch unsere Hilfe und Unterstützung sich ihre Lebenssituation verbessert hat, diese Momente motivieren mich und beweisen immer wieder, dass unsere Arbeit wirklich etwas bewirkt. In der Türkei haben wir einen verzweifelten jungen, syrischen Vater dabei unterstützt, offizielle Dokumente und ein medizinisches Gutachten für sein krankes Baby zu bekommen. Seine Versuche sind jedes Mal an den Behörden und der Sprachbarriere gescheitert. Mit den Dokumenten konnte er seinen Sohn die dringend benötigte Operation ermöglichen. Das war einer dieser motivierenden Momente, die mich weiter antreiben.“
Und so wird die Kehlerin weiterhin humanitär tätig sein. „Ich habe nicht vor, die Welthungerhilfe zu verlassen. Daher habe ich bewusst einen berufsbegleitenden Studiengang gewählt und werde meine Master-Arbeit trotz Vollzeitjob schreiben, auch wenn es bis zur Fertigstellung und Abgabe etwas länger dauern wird.“ Was dann kommt, sei schwer zu sagen. „Mein Ziel ist es, irgendwann selbst Nothilfe-Einsätze zu koordinieren oder ein Nothilfe-Projekt zu leiten. Wo spielt dabei eine nur kleine Rolle.“